DERNIER CRI
JANUAR 22#1 DERNIER CRI
Wir zerfallen.
In Einzelteile.
So hatte dieser Text begonnen. Bevor er sich aus mir nicht bekannten Gründen selber zerstörte, sich in irgendein digitales Nirvana verbschiedete. Nicht auffindbar, nicht rückgängig zu machen. Diese Gedanken existieren nicht mehr, hat es nie gegeben, sind unempfangen ungesendet ungedacht.
Muss gerade kurz an den Klienten von neulich denken, junger Mann Mitte 20, der die Überzeugung äußert, es gebe keinen freien Willen. Und an den beim Hören direkt mitgesendeten Impuls, da jetzt aufbegehren zu wollen, in eine Diskussion zu treten und diese Sichtweise glorreich verbal zu widerlegen, niederzuschmettern und … und dann…? Nicht meine Aufgabe, diskutieren ist Privatsache, der Kontext hält anderes bereit, also nachfragen, ihm dabei helfen, zu verstehen, wie er zu dieser Wirklichkeitsauffassung kommt, was das für eine Selbstkonzeption erzeugt und was das überhaupt und vor allem auch mit ihm macht, wie das auf sein Fühlen und Denken wirkt und welche Handlungsspielräume er sich damit öffnet und vielmehr auch verschließt…Immer das Problem, sich dann wieder anzunähern, an eine Neutralität, die ich als Subjekt ja gar nicht aufbringen kann, weil das Werturteil da immer zuschaut, mitredet, weil die reine, teilnehmende Beobachtung, die pure Beschreibung der empfangenen Sinnesdaten immer schon die Bewertung mitsendet, bzw. auf einer Solchen sich bildet - auch wenn „die Sinne nicht urteilen“ (wer war das, Kant?) - ich bin nicht sicher, ob das meiner Realitätserfahrung entspricht. Was ich höre, sehe, fühle, taste ist so unmittelbar an die Empfindungsinstanz gekoppelt, dass jede Objektivität und jedes vermeintliche Schauen und wertfreie Staunen nur und wieder nachträglich einzuleiten ist, als ein sich annähernder Prozess, in dem etwas bereinigt werden muss, was von mir bereits aufgefasst wird und meine idividualisierten Kanäle und Erfahrungsabgleiche durchlaufen hat…
Das Problem der vereinbarten Realität ist ja stets, dass da niemand den Daumen hebt oder senkt und sagt: Vereinbarung gut, richtig, der Eine da hat Recht und der Andere weniger…Meist sind es dann leider doch die Hierarchien, die Situationen, die Rollen und die Kontexte, die Vereinbarungen gestalten, die dafür sorgen, dass einer sich irgendwann bewegt, auf den anderen zugeht und irgendeinen Spielraum bereithält, zulasten der eigenen Ausgangswirklichkeit, oder so…
Wo war ich? Ah, der Zerfall.
Also nochmal von vorn:
Warum Einzelteile? Wie war das gemeint?
Anstelle die Welt, die Gesellschaft, als einen lebendigen Organismus aufzufassen oder zu erkennen, Entscheidungen übergeordnet und im Hinblick auf Wandel, Schutz und Genesung dieser Struktur zu bedenken, verfallen wir in Vereinzelung, weil wir uns vereinzelt begreifen und vereinzelt handeln. MEIN Körper! MEINE Freiheit!
Meine Güte…
Und nicht, weil die primäre Erkrankung , das virale Geschehen, als Solches eine Auflösung erzeugte, für das Ganze, die Struktur, die Welt, sondern weil unsere Stellungnahmen, unsere Schlussfolgerungen, weil unser gesamtes Verhalten in Bezugnahme auf das Geschehen, auf die Gefahr und auf die Erkrankung, reaktiv, defizitär und pathologisch ist.
Und jetzt die Büttenredentröten, dreimal, bitte…
Wir spalten uns einfach immer weiter, in zwei opponierende Lager:
Auf der einen Seite Jene, die aus einem tiefen Vertrauen in die Kompetenzen und in die Redlichkeit der gewählten Volksvertreter und der Gewaltenteilung dem bereitgestellten Narrativ folgen, und andererseits Solche, die den vorzufindenden, angebotenen und naheliegenden Gegennarrativen folgen.
Was noch fehlt, sozusagen über These und Antithese hinaus, ist ein wirklich neues Narrativ.
Ich merke diesen Widerwillen, diesen einsetzenden Ekelreflex: Ich will nicht noch mehr„Gegen-Narrative“, denen wir aus allen Richtungen in ähnlicher Ausprägung begegnen, auf maximaler Simplifizierung beruhend, auf einer Vereinfachung der Welt, durch die alte Fundamentalismen neu tradiert und modernisiert werden.
„Verschwörung“ als die gegenwärtige Möglichkeit, auf kleinstem Nenner Gemeinsamkeit zu suggerieren, Zugehörigkeit und Differenz, Widerständigkeit und geteiltes, pseudo-elitäres Geheimwissen - all das dient als stocksteife Gehhilfe für brüchige Identitätskonstrukte und misslingende Selbstentwürfe.
Paradox ist dabei: Der Wechsel von einem Herdenbekenntnis zum anderen, dem Opponierenden.
(Die „Herde“ ist spätestens seit Diskussion der „Herdenimmunität“ wiederbelebt. Der Begriff und seine Verwendung, beides Anachronismen, werfen uns zurück in Animismen, oder sie weisen uns lediglich darauf hin, dass wir im Irrtum waren, wenn wir meinten, diese überwunden zu haben…)
Cool, oder? Aus den eigenen cerebralen Untiefen reanimiert, diesen Satz. Deshalb atmet der auch noch so schwer und mühsam, und wirkt ein bisschen blass.
Von was wird da überhaupt gesprochen, was wird da so entschieden und aggressiv verteidigt und beansprucht?
Etwas, das uns bis zu seiner vermeintlichen Abgängigkeit nicht wirklich gegenwärtig war, das wir weder aktiv entfalten konnten, noch als Solches zu identifizieren vermochten. Etwas Spezifizielles, das sich für das Gewahrsein scheinbar im Ausbleiben, im Nicht-mehr Vorhandensein konstituiert:
„Freiheit.“
Eine Freiheit, ausgebleicht und abgegriffen durch tausendfache Abstrahierung und Reklamation, die wir fortschreitend und unter teilnehmender Beobachtung eintauschen, riskieren und aufs Spiel setzen, in und aus Unkenntnis dessen, worin ein durch seine Gefährdung allzu konkret werdender Begriff eigentlich besteht, und inwiefern eine fahrlässige Degradierung zum Epi-Phänomen dessen Tiefenstruktur untergraben wird.
Freiheit, die wir bei Bedarf umdeuten und wesenhaft missverstehen:
Wir waren und sind nicht frei VON, sondern immer nur frei ZU.
Die Differenz kennzeichnet die Wirklichkeitsauffassung.
Das gegenwärtig nervende Hantieren mit der Freiheitskeule, die einsetzende Reduktion von Essentiellem durch Proklamation von Individuellem, oder eben einfach nur ein lärmendes, spazierendes Kollektiv, das sich auf kleinstem Nenner gemein macht und Freiheit mit Individual-Egozentrik verwechselt - all das verweist womöglich nur darauf, was wir an Humanum einbüßen, sofern wir es nicht als Solches markieren, es nicht mehr ausfüllen, in unserem Handeln und in unserem Selbstverhältnis.
Vielleicht besteht Freiheit immer nur in und für den Moment, in dem sie handelnd vollzogen wird. Ansonsten bleibt sie abstrakte Möglichkeit, Versprechen und Potential.
Und immer wieder die Unsicherheit darüber, was wir da eigentlich tun, wie wir handeln und reagieren, uns irgendwie durchmogeln, durch was denn eigentlich?
Wir entwerfen - angedacht kurzfristige - pathogenetische Verhaltenskoordinaten, deren jetzt bereits mittelfristiges Bestehen sich langfristig und nachhaltig ( nicht nur ) auf unsere Interaktionen auswirken wird.
Unsere Gewohnheiten verändern sich, wir passen uns an und richten uns ein, schaffen neue Komfortzonen, die diverse Entfremdungsimpulse freisetzen.
Distanzierung, Isolation, Abstand und Angst werden ebenso verinnerlicht, wie als neue soziale Parameter empfunden, von deren Habituierung wir uns nur langsam, sukzessive und unter aktivem Gestaltungsbeitrag wieder lösen werden (können).
Kurz gesagt: Neu entstandene Alltagsroutinen werden die Pandemie überdauern. Das ist in manchen Fällen zu begrüßen (bei Erkrankung Maske tragen um andere zu schützen, gesteigerte Aufmerksamkeit für Hygiene und krankmachende Faktoren), in seiner absoluten, einseitigen und rein pathogenetischen Ausrichtung jedoch ein Faktor, der Vereinzelung und gegenseitige Befremdlichkeit bzw. allgemeine Entfremdung hinterlässt.
Es fühlt sich an, als befänden wir uns in einem Zwischenraum, von Phasen, im Schwebezustand einer Art Wende, wo das eine bereits beendet, das andere aber noch nicht wirklich begonnen hat, wp sich das Alte löst wie abspringende Schuppen und darunter langsam und noch nicht im Ganzen greifbar eine zarte Membran erkennbar wird, Teile oder Momente einer Struktur, deren Bestandteil wir ebenso sind, wie unser Handeln und unsere Seinsweisen diese konstituieren.
Nur: Wenn wir zur Zeit über Veränderung sprechen, dann auf dem Niveau von individuellen Neujahrsvorsätzen, was zur Folge haben kann, dass wir verändert werden, uns verändert sehen, ohne dass wir gestaltend an diesem Prozess teilhaben.
Was passiert da überhaupt gerade, WTF?!?
Oder besser, um es mit T´s Worten zu sagen: „Wotafott?“
Der 2020 immer wieder auftauchende Begriff der SYSTEMRELEVANZ verweist uns in und stellt uns vor (im schlechtesten Falle) geschlossene, systemische Schranken, und soll das wahrscheinlich auch.
Was ist ein, was ist DAS System? Rombach fragen? Dann aber aufpassen, dass es noch die eigenen Auffassungen sind, denen man folgt, die eigene Denksuppe, die man auszulöffeln ge-denkt.
Und ist das jeweils als systemrelevant verhandelte Phänomen wirklich immanent, oder nur im Hinblick auf die Selbsterhaltung des ihm zugrunde gelegten oder übergeordneten Systems, und, nicht zuletzt, ist dieses selber „relevant“, als konstitutives Element eines „Mega-oder Metasystems“?
Wenn allenthalben von Systemen gesprochen wird, muss man also davon ausgehen, dass wir der Überzeugung sind, uns innerhalb von Solchen zu bewegen, selbst Teil dessen und selbst System zu sein.
Aha, next step in der Semantikschleife:
Das Systemdenken bezeichnet die Wirklichkeitserfahrung des (neuzeitlichen) Menschen.
(Rombach also. Gelesen irgendwann, goutiert, privatisiert. Wie man sich Dinge zu Eigen macht, in irgendeinem Blog schonmal darüber nachgehakt.)
Wirklichkeitserfahrung - also insofern dann ja auch die Arten und Weisen, wie wir uns in der Wirklichkeit und in unserer Wahrnehmung eingerichtet haben - nämlich und namentlich als Element in einem Gefüge von Teilen, miteinander verknüpft und in Beziehung stehend, nach einem einheitlichen Prinzip.
Alles Seiende, auch der einzelne Mensch, tritt dann nicht „nachträglich“ mit Anderem und Anderen in Beziehung, sondern es/er existiert, bzw. IST nur das, was es/er im Bezug zum Ganzen - zum SYSTEM - darstellt oder bedeutet.
Das System hält alles zusammen und richtet die Dinge nach seinem geltenden Prinzip aus.
Das bedeutet auch, dass Veränderung, Entwicklung, Mehrung oder Wachstum lediglich innerhalb des Systems, im Rahmen dessen Prinzipien und Gesetzmäßigkeit, möglich sind.
Was NICHT möglich ist:
Veränderung der Welt selbst, des Systems, des Ganzen an sich, als Solches.
Und jede Veränderung kann sich auch nur als eine bereits angelegte, innerhalb des Systems vorkommende ereignen - sozusagen als Ressource.
Es ist anzunehmen, dass die Probleme, die in beinahe allen Teilsystemen (Gesundheitssystem, Finanzsystem, Bildungssystem etc) sich gegenwärtig und langfristig abzeichnen, nicht auf System-Fehlern beruhen, sondern aus dem System selbst, bzw. dessen Setzung per spezifisch nach ihm ausgerichteter Wirklichkeitsgestaltung, er-wachsen.
Systeme sind spätestens dann und konkret am Ende, wenn sie aus sich selbst heraus keine Möglichkeiten mehr anzubieten in der Lage sind, sich selbst aufrechtzuerhalten.
An diesem Punkt setzte dann in der Vergangenheit immer wieder ein Prozess der partiellen Selbstzerstörung ein - Kriege, Krisen, Katastrophen - und verschaffte den blutleeren Systemen einen vorläufigen Spielraum an Wachstum und an Möglichkeiten.
Es bestehen aber auch andere, wirkliche Alternativen:
Das System muss sich nach Außen und Innen öffnen, ein Strukturverständnis entwickeln, oder, eher noch, sich der eigenen, geschichtlichen Strukturgenese vergegenwärtigen und stellen.
Aber ein Strukturgeschehen lässt sich nur innerhalb, als empfindend-gestaltendes Moment einer Struktur, beobachten, setzen und dadurch konstatieren.
Da das (Da-) Sein sich stets mit seiner Wirklichkeit konstituiert, entscheidet unsere jeweilige Existenzweise über die Arten unserer - in der Konstitution vorgefundenen - Wirklichkeit. Alltags-und Tiefenstrukturen, Seinsbegriffe und Seinsauffassungen, stehen in Verhältnis und in Wechselbeziehung zueinander.
Er so: Ja, toll, und was soll ich jetzt machen?
Und sie dann so: Jetzt warte doch...
Wir konstituieren das System also fortlaufend, indem wir unser Verhalten systemisch ausrichten, indem wir unsere Wirklichkeit als eine im System bestehende und den Prinzipien der Systeme folgende, auffassen - und vorfinden.
Der altbekannte Witz und Teufelskreis wiederum, nur leider geht die Pointe auf unsere Kosten:
Wie erkennen, dass wir reduziert sind, WENN wir reduziert sind? Wie das Systemdenken überwinden, mit den -vorhandenen und begrenzten - Mitteln und Möglichkeiten des Systemdenkens?
Und, vor allem: Was zur Hölle bedeutet das für diesen Text und diesen Redeschwall???
Wie bin ich denn jetzt hier, irgendwo in einer brackigen Brühe aus Rezitationen, gelandet, wo doch eigentlich ein Gedankenstrom mich mitreißen sollte, ungetrübt, unmittelbar, momentan entstehend?
Wohin denn noch, wenn das Hirn besetzt, die Sinne parteiisch und das Wollen nicht frei ist?
Erstmal rauchen.
Jetzt, wo alles raus ist, wieder Raum entstanden ist, jetzt muss ich das verändern, jetzt, ab jetzt.
Ist ohnehin gerade dernier cri:
Neujahrsvorsatz DETOX.
Ab heute keine Fremdgedanken.
Er so: Die nächsten Texte werden kurz und wenig manieriert sein.
Und sie dann so: Ist das ein Versprechen?
Dipl.-Hygiagoge im Hygiagogik-Zentrum Nordwest
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