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klientenpflege - director`s cut

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JUNI 18/5 klientenpflege - director`s cut

Ich gehe durch die Stadt, ich verspüre Weltekel, etwas Bräsiges klumpt zäh durch meine trägen Säfte, vielleicht Misanthropin? Die ganze Struktur scheint irgendwie runtergefahren, Stand by-Modus, Notstromaggregat, maximale Minimalie, was mache ich eigentlich ? Ah, Gehen, und das ziemlich ausschließlich.

Von weit weg vernehme ich ein "Hallo", irgendwo vom Rande des Auditiven, dringt aber gerade so noch durch, geht mich an, zumindest reisst es mich raus, aus dem Ich-Tunnel. Der Schritt verlangsamt sich, der Kopf hebt und dreht sich, die Augen suchen, das "Hallo" wird eingeordnet als interessiert, nicht aufdringlich, aber bestimmt, keine Option mehr, einfach weiterzugehen. Der Sozialreflex ordnet die Interaktion an, fordert Stehenbleiben ein, das ist dann auch der erste Gedanke, der den trüben Bluthirnschranken-Schleim passiert und zu mir durchdringt, also machen die Beine Halt und ich erfasse zwei Gesichter, eines männlich, eines weiblich, der Prozess der Identitätsermittlung hat gerade begonnen, da ist der des Erkennens und Zuordnens auch schon abgeschlossen, die Namen tauchen auf, das Beziehungsgeflecht, Mimik wird eingeordnet, Herr und Frau A., Klienten aus B., das Gehirn übernimmt nun scheinbar vollständig, schaltet irgendeinen Modus für soziale Normen ein, der Körper macht direkt mit, zieht die Hände aus den Hosentaschen und streckt sie - erst der Frau, dann dem Mann - entgegen, während der Oberkörper sichöffnet, Zugewandtheit signalisiert, die Begrüßung schaltet sich zu, "Hallo Frau A., Hallo Herr A, wie geht es ihnen?" etc. Wo kommt das alles auf einmal und simultan her, diese tausendfach geprobten und ebenso häufig vollzogenen Gewohnheiten des Sozialen, was sind das für Programme, die das alles herstellen und aufrechterhalten, selbst in Zuständen des maximal Abgeneigten, der Welt-und Menschen-und Selbstverachtung, des Ekels und der Isolierung, wieso übernimmt da dennoch das Gepflogene, die Bemühung um Integriertsein, um nicht aus dem Rahmen fallen, nicht An-und in Folge Abstoßen, wer bestimmt denn hier gerade, was das Thema ist, bin das überhaupt noch Ich? Das situativ angepasste Verhalten, die soziale und die situative Identität, sind das vom Wesen her noch alles Meinhaftigkeiten, kann ich denn da urheberrechtlich Einspruch erheben, Veto einlegen, und wer, verdammt nochmal, ist eigentlich der Sprecher, der Schreiber, der Denker und der Akteur, soll das alles Ich sein? Und wie werden die Hierarchien in den Entscheidungsgremien festgelegt und verteilt, löst die soziale die mimetische oder die situative die pragmatische Identität ab, wer steht denn da über allem, Ich-Identität, Leib, kultureller Habitus oder wie oder wer oder was?

All das denke ich natürlich nicht in dem Moment der Begegnung, denn da denke ich etwas völlig anderes: links von mir, vom Blickfeldrand gerade noch erfasst, fällt während meiner Begrüßungsfloskeln ein Fahrrad um, einfach so, klatschpeng! macht es, im Aufprall, das höre ich und merke, wie ich den Impuls, da hinsehen zu wollen, unterdrücke, da ich dafür ja die Interaktion und den Blickkontakt, das ganze Sozialgeflecht dieses Small-Talks kurz verlassen müsste, und das will ich nicht, vielleicht aus Angst, nicht vollständig wieder zurückzufinden, wahrscheinlich eher aus dem Glaubenssatz das macht man nicht! heraus, in jedem Fall rede ich einfach weiter, frage interessiert nach, "ah, sie haben Urlaub! oh ja, Brückentag, toll!, nein nein, ich habe Mittagspause", undsoweiterundsofort, lasse mich da stehen und agieren, interagieren, sozial funktionieren, während ich denke und notiere : Fahrrad umgefallen. Nicht hinsehen!

Dann löst sich diese Begegnung ganz plötzlich von selber auf, wir verabschieden uns, kurz nachdem der Mann ganz abrupt, mitten im Reden, unvermittelt und ja irgendwie auch unsozial bis autistisch nach rechts schaut, seine Aufmerksamkeit sich dadurch nicht nur verlagert, sondern ihm geradezu entgleitet. Was war da geschehen, was hatte ihn derart in den Tunnel gezogen, aus dem er uns jetzt aus in tiefen Höhlen liegenden Augen kaum noch wirklich ansieht? Dass er uns, seine Frau und mich als Auditivum, so im Nebel und im Regen und vor einem - namentlich seinem eigenen - Fragezeichen stehen lässt?

Klatschpeng! hatte es gemacht, da war der Blick auch schon gewandert...

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Autor Florian Giesenhagen

Dipl.-Hygiagoge im Hygiagogik-Zentrum Nordwest

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