D a R/8
TEIL 3
JANUAR 1998
8 KLINIKPROTOKOLL M - 9.1.98
Es ist 0h58. Ich schlafe kaum.
Es ist nicht so, wie es ohnehin schon gewesen ist, wie es seit Jahren sich schon etabliert hat, dass ich nämlich immer wieder wach werde, dass ich niemals länger als zwei Stunden schlafe, ohne Unterbrechung.
Seit diesem Tag, an den ich mich nicht erinnern kann, bin ich nicht mehr hinreichend zur Ruhe gekommen, um überhaupt nur einschlafen zu können. Mir geraten die Bilder und Erinnerungen durcheinander. Manchmal träume ich von diesem Unfall – es variieren jedoch die Einzelheiten, es wechseln die Situationen, die Autos, die Besetzungen – es sind mindestens zwei Unfälle, die ich aufzurufen scheine, die ich vermische und verwechsle, die mich beirren und verwirren. Dann weiß ich nicht mehr, ob ich schlafe, ob ich wach bin, ob ich träume oder nicht.
Manchmal träume ich davon, einen Unfall nicht überlebt zu haben...
Manchmal bilde ich mir ein, es hätte mich und F niemals gegeben. Dann wieder bin ich mir uns und dessen sicher, dann warte ich darauf, zu erwachen, einfach nur plötzlich wach zu werden, die Augen zu öffnen und unmittelbar zu wissen, DASS ich geträumt habe, und was ich geträumt habe, DASS ich erlebt habe, und was ich erlebt habe.
Es ist dies der schlimmste meiner Alpträume: Ich erkenne, dass ich nicht geträumt habe.
Der Träumende ist der eigentlich Erlebende, der Traum die Wirklichkeit, das Erlebnis der Traum...
Die Benzos helfen schon lange nicht mehr. Es scheint fast so, als wolle mein Organismus mich vor meinen Bildern und Erinnerungen schützen. So vegetiere ich dann am Tage, trete immer wieder weg, gerate in eine Art Halbschlaf oder Wachkoma, kann nicht mehr unterscheiden, ob ich im wachen Zustand Traumbilder hervorrufe, oder ob ich träume, wach zu sein. Licher meint, „der Körper nimmt sich irgendwann den Schlaf, den er braucht.“
Aha. Ich soll mich entspannen, richtig?
Wie sich alle permanent um die Wette ENTSPANNEN, hier, dort, da draußen. Wie sie sich ereifern, an der eigenen Abstumpfung, die sie als Gelassenheit verklären, wie sie ihre Gleichgültigkeit mit Ausgeglichenheit verwechseln, wie sie alle irgendwann einfach die Bewegung und Begegnung einstellen, wie sie aufhören zu sehnen, zu tasten, zu fühlen, wie sie meinen, sich zufriedengegeben zu haben, obwohl sie nicht infrieden sind, obwohl sie nur die eigene Mutlosigkeit konstatieren und verallgemeinern, das Scheitern an den Wünschen und Zielen – bzw. überhaupt das Nichtvorhandensein oder die Abgängigkeit derselben – wie sie all dies als natürlichen Vorgang und als persönlichen Reifeprozess vermelden und verklären.
Wenn irgendwann dann nichts mehr hilft, wenn die gesamte Pseudo-und Küchenpsychologie scheitert, an und mit ihrem Versuch, aus den eigenen Entwürfen eine genetische Programmatik zu machen, weil sie dann doch AHNEN, dass sie sich selber entschieden haben, dass sie sich -anders- hätten entscheiden können, dass es in ihrer eigenen Verantwortung liegt, sich derselben zu entziehen, dann wird sich der Pathologie bedient, dann sind es die ERKRANKUNGEN, denen sie sich ausliefern und hingeben, die sie vor sich hertragen und die sie zitieren - und all dies aus vorwiegend diesem einen Grund, aus dieser Schwäche und Feigheit heraus, sich und anderen nicht eingestehen zu können und zu wollen, dass man eigentlich, im Grunde und immer schon lieben und geliebt werden wollte. Das kann so schwer nicht sein, behaupte ich, aus den Räumen einer Psychiatrie heraus.
Jedenfalls ist F verschwunden, und bleibt es weiterhin. Auf meine Frage, wie Licher denn zu dieser Überzeugung kommt, der Körper "nähme sich schon das, wessen er bedarf", ob er aus Erfahrung spricht, ob er selber schon erlebt hat, was er mir da berichtet und erklärt, hat und gibt er naturgemäß keine Antwort. Er schaut mich einfach weiter an, lässt meinen Blick und meine Frage resonanzlos im Raum hängen, lässt die Konfrontiertheit und die Kommunikation vollständig abprallen, an dieser Mauer aus Gleichgültigkeit, an dieser Wand, die da zwischen ihm und der Außenwelt errichtet und hochgezogen ist, die ihn abschirmen soll, vor allen anderen und vor all dem, was ihn betreffen könnte und was Emotionen erzeugte.
In dieser Wand ist ein kleiner Spalt gelassen, da schaut er manchmal hindurch, nach draußen, auf die Patienten und in deren Lebenswelt, und der Spalt ist halbdurchlässig, ist permeabel nur nach außen, als wäre eine Schicht aus Spiegelglas dort eingefügt, die den Blick auf ihn nicht freigibt, sondern nur zurückwirft, auf den, der sich dann selber sieht.
Es kann keine Interaktion entstehen und stattfinden, auf diese Weise. Das ist dann wohl auch der Sinn dieser Sache. Das ist möglicherweise aber auch absurd, denn nur im Intersubjektiven, einzig in der Begegnung, gibt es beizeiten auch irgendetwas zu sehen und zu erkennen, von und über uns. Aber wie, woher, wodurch und anhand von was, soll ein diplomierter Psychologe das wissen? Während es galt, zu leben, Gefühle und Erlebnisse zu generieren, zu leiden und zu hoffen, zu darben und zu sehnen, während es also prinzipiell möglich war, all diese wesenhaft menschlichen Erfahrungen zu machen, die uns ja letztlich überhaupt ausstatten, mit dem Vermögen, uns einzufinden, in uns selbst und in andere, Emotionen zu empfinden und Gedanken zu verstehen, diese Dissonanzen zuzulassen und die grundsätzlichen und veranlassenden Zweifel zu entwickeln, aus denen sich dann irgendwann Veränderungen und Entscheidungen ableiten, ebenso, wie die Bereitschaft und Befähigung, die eigenen Niederschläge und das Scheitern zu durchleiden und sich dann wieder aufzurichten, an irgendetwas - währenddessen hat er studiert.
Da ist nicht DAS LEID, es gibt nicht DIE DEPRESSION, DIE PSYCHOSE oder DIE SUCHT.
Vielleicht ist es immer der einzelne Mensch, der seine eigenen Verwicklungen in seine eigene Situiertheit zu entfalten und zu reflektieren hat. Wahrscheinlich ist es immer MEIN LEID und MEINE SCHIZOIDITÄT, die sich da gestaltet und vollzieht, die vielleicht Parallelen aufweist, zum Erleben der anderen, zum Leid eines anderen, die aber niemals theoretisch und absolut zu verallgemeinern ist.
Andi referiert in den Gruppensitzungen über seine Depression. Es ist eindeutig, dass er da nicht sein eigenes Erleben anzapft, dass er nicht von seinen Erfahrungen berichtet, sondern vielmehr das rezitiert und weitergibt, was er am Abend zuvor in irgendeinem Lehrbuch über Depressionen gelesen hat, die typischen Symptome sich einverleibend und sich das zuschreibend, was da aufgeführt wird, im Allgemeinen, als Begleiterscheinung, als Merkmal und als Signifikanz. Während er depressiv IST, informiert er sich und andere darüber, was er zu erleiden meint und was er zu empfinden hat, als ein an Depressionen erkrankter Mensch. Der gesamte Redeschwall, all seine Überzeugungen und Glaubenssätze, alles speist sich aus Aufgeschnapptem – der ganze Andi-Mensch ist eine einzige Aufschnappung und Rezitation – wenigstens in Hinsicht auf das Thema Depression... Das Problem ist, dass ihm so der Zugang verwehrt bleibt, zur Meinhaftigkeit, zum je eigenen Erleben, zu SEINER Erfahrung. Und es bedeutet nicht, dass er nicht depressiv wäre, sich das alles einbildete, oder es inszenierte - es verhindert jedoch das Durchleiden seines ureigenen, individuellen Nullpunktes, der immer eigenständig und absolut durchschritten und insofern dann durchlitten sein muss. Die Theorie abstrahiert all das, was die Betroffenheit konkretisieren könnte, um den Punkt zu identifizieren, an dem Andi springen könnte, müsste, sollte. Ebenso, wie mir die Auseinandersetzung mit ihm momentan ja auch den Blick auf mich verstellt, und das vielleicht ja sogar SOLL…
Da ich mich sonst in meinen eigenen Gedanken verliere, da ich mir selbst abhanden komme, indem ich mich selber immer weiter reflektiere und abstrahiere, setze ich einfach das fort, was Licher mir empfohlen hat, um mich zu erden, um mich in der Gegenwart zu verankern. Ich beginne also eine Berichterstattung. Ich protokolliere und ich lasse den jeweils vergangenen Tag passieren, indem ich ihn schildere, anhand der konkreten Erlebnisse.
Ich dokumentiere weiter, ich mache einfach immer weiter. Vielleicht ist es das, was wir alle tun, irgendwann, an irgendeinem Punkt: Wir machen einfach immer weiter…
8.1.98
Als es am Nachmittag soweit ist, mache ich mich wieder auf den Weg, gehe den Flur entlang, die Treppe hoch und betrete den ersten Raum links, vor dem ein Schild hängt, auf dem steht:
Dr. psych. W. Licher, Dipl.-Psychologe. - Psychiater für Psychotherapie
Wenn man die Tür öffnet, sieht man zunächst den großen Schreibtisch aus furnierter Eiche, der vor den Fenstern zum Park der Klinikanlage steht. Dahinter, mit Blick auf den Eingang, ein drehbarer Bürostuhl aus dunklem Lederimitat. An den Wänden hängen diverse Diplome, die seine Kompetenz dokumentieren und ihn als Fachmann legitimieren und ausweisen sollen. An der größten Wand, links zur Tür, hängen die unvermeidlichen Miro-oder Kandinski-Drucke, die in allen deutschen Arztpraxen zu bewundern sind, in unterschiedlichen Varianten. Der Rahmen ist aus Kunststoff, entweder IKEA oder MÖBEL WENZEL, er wirkt schlicht, billig und geschmacklos. Der gesamte Raum ist eine äußere und ästhetische Entsprechung zu der Person des Dr.Licher - konturlos, glatt und steril, hinreichend stilbefreit. Eines der Fenster ist geöffnet, es ist Dezember und da draußen ist es kalt.
Dennoch riecht es in diesem Raum, nach Kaugummi, nach einer Mischung aus mehreren Sorten Schweiß - und nach Pfeifenqualm, denn Dr. Licher ist sich nicht zu schade, das Klischee des pfeiferauchenden Denkers zu bedienen, das vielleicht sogar primär auf Sigmund Freud zurückführt, dem Prototypen dessen, was Licher da inszeniert, was er in sich sehen und gesehen haben will, als was er wünscht, wahrgenommen zu sein.
Er sitzt im Regelfall hinter seinem Schreibtisch, tut so, als würde er mich kaum bemerken, weil er so vertieft ist, in seine Arbeit, schaut dann irgendwann auf, scheinbar hochgeschreckt aus einer intellektuellen Tiefe und Versunkenheit, nickt mit dem großen, runden Kopf und verweist mich wortlos, mit einem Schwenken desselben, zur Sitzgruppe, nicht unfreundlich, nur emotionslos und bestimmt, nur kühl und sachlich. Er ist annähernd das, was man in seinen Kreisen als „die reine Projektionsfläche“ bezeichnet.
Es sind dies routinierte Vorgänge, die sich beinahe immer gleichen, Abläufe, die ineinandergreifen, ein Gebahren wie auf Schienen, streng und klar vorgegeben, nie abweichend, festgelegt in seine Richtungen, zweckmäßig und orientiert an den Hierarchien, an denen er sich entlangzuhangeln scheint, die ihm schablonenhaft die Zuschnitte bereitstellen, anhand derer er sich bewegen und verhalten kann. Aber etwas ist anders, jetzt, etwas fehlt, lässt Lücken in der Atmosphäre des Raumes, wie greifbare Auslassungen, wie etwas, das man nicht anfassen kann, dessen Abwesenheit sich aber aufdrängt.
Man sagt, blinde Menschen spürten die Gegenwart anderer, nähmen sie wahr, wie eine Präsenz, die dann vorhanden ist. Hier, in diesem Zimmer, fehlt jegliche Präsenz. Noch bevor ich sehe, dass Licher nicht anwesend ist, kann ich es fühlen, als hätte sich etwas verschoben, in der Anordnung und in der Gerichtetheit all dessen, was hier zu greifen und zu spüren ist. Es fehlt die Resonanz, die meine Anwesenheit spiegelt und zurückwirft, eine weitere Lebendigkeit, an der sich meine eigene Stofflichkeit brechen könnte. Ich sehe mich um. Das Fenster ist geschlossen, es ist wärmer als sonst, es riecht anders - der abgestandene Schweiss dominiert - und es ist dunkel, viel zu dunkel für diese Uhrzeit, selbst für einen Dezembertag. Ich nehme das alles zur Kenntnis, setze meinen regulären Weg fort, zur Sitzgruppe hin, zu meinem Sessel, sehe aus den Augenwinkeln mehrere Dokumente, die auf dem Schreibtisch liegen, sauber abgeheftet in Aktenordner. Auf dem, der ganz oben liegt, steht mein Name, in Großbuchstaben, mit Edding und in fetten Lettern, darunter das Geburtsdatum, ein paar Abkürzungen (Dr.ind.Ps; .aff.Pers.St. ;polytox).
Ganz unten, in Versalien und fett an den Rand geschrieben, vor dem abschließenden Kürzel Dr.Licher : pot.suiz.gef.?
Das betrifft und interessiert mich dann doch. Ich gehe zum Schreibtisch, greife mir den Ordner, setze mich auf den Drehsessel und klappe den Aktendeckel um, will mir Klarheit verschaffen, will es wirklich wissen, was die Deppen über mich denken, nicht OB, sondern nur WIE sie mich pathologisieren, was das für mich bedeutet und wie ich mich daraufhin verhalten sollte, um hier schnellstmöglich wieder raus zu kommen, aus diesem sprichwörtlichen und konkreten IRRENHAUS, denn das steht spätestens ab jetzt ja unmissverständlich fest, das ist nicht mehr nur Sachverhalt, sondern subjektive Tatsache, dass ich es hier ganz konkret mit IRREN zu tun habe.
Ich bin gerade in Begriff, die erste Seite umzublättern, als ich ein weiteres Geräusch vernehme, diesmal von draußen, vom Flur kommend, eine Art Kratzen, erst hölzern, dann metallisch. Unmittelbar und im Affekt schließe ich die Akte und ducke mich unter die Auslassung des Schreibtisches, in die der Stuhl hineingeschoben wird, die sonst Platz für die Beine lässt, in der ICH nun Platz finde, in die ich vollständig hineinkrieche, um von dort den sich noch
drehenden Sessel anzuhalten. Im selben Moment fällt ein Lichtstrahl in den Raum, die Tür öffnet sich, und ich überlege, warum sie nicht abgeschlossen gewesen ist, warum derjenige, der jetzt eintritt, sie aufzuschließen versuchte, und was das zu bedeuten hat – alle Gedanken denken sich nahezu gleichzeitig, und während des Denkens stellen sich diverse Haare auf, an den Unterarmen und im Nacken, es dreht sich etwas um, in meinem Magen, vom Unterbauch aus entstehen Töne, ich spanne den Schließ-und den Beckenbodenmuskel an, weil ich das Gefühl habe, mich sonst aus Angstaffekten entleeren zu müssen (GROß!), hier und jetzt, unmittelbar und ausgiebig, direkt unter den Schreibtisch meines behandelnden Psychiaters - was womöglich nicht zu meinem Vorteil gereichte, in der Betrachtung meiner mentalen Verfassung...
Ich höre Stimmen, erkenne den Bariton von Licher, der etwas murmelt, beschwichtigend, vom Tonfall her beruhigend. Der Lichtstrahl wird wieder kleiner, verschwindet völlig, die Tür wird geschlossen und wieder ertönt dieses Kratzen - warum schließt er ab, von innen, das frage ich mich, während mein Körper darauf mit einem erneuten Gefühl der Unbehaglichkeit antwortet. Die Stimme, die jetzt redet, die kenne ich, die habe ich schon einmal gehört, das denke ich zumindest, in diesem Moment. Aber sie flüstert auch nur, die zweite Person, die ebenfalls männlich ist. Es ist ein seltsamer Singsang, der da vom Zentrum des Zimmers zu mir durchdringt, nach unten, in diese Schutzzone, in die ich mich zurückziehen konnte.
Jetzt bewegen sich die Männer, ich kann dieses sanfte Quietschen hören, dass von Gummisohlen erzeugt wird, wenn sie sich über PVC bewegen, denn sie haben den Läufer verlassen und scheinen direkt auf dem Weg zum Schreibtisch zu sein, diese vier Füße, was mir einen weiteren Umstülpvorgang meines Gedärms bereitet - ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich in diesem Augenblick nicht sogar furze, nicht laut, nicht krachend oder eklatant, aber durchaus vernehmlich, ein Pups wie ein Seufzen, wie etwas, was sich Luft verschaffen muss, weil die Anspannung zu groß ist. Selbst jetzt, wo ich dieses Geschehen notiere, Stunden später, treibt es noch meinen Puls an, mein Herz rast und ich muss mir vergegenwärtigen, dass all dies bereits vergangen ist, muss mich selber vergegenwärtigen, in das Jetzt und Hier holen, um weiterschreiben zu können, weil meine Hände andernfalls zu zittern beginnen.
Mich hat keiner bemerkt, da bin ich sicher, denn die Stimmen setzen wieder ein, ruhig, entspannt, beinahe schon sich gegenseitig wiegend, in einer großen Vertrautheit und Gelassenheit. Es ist ein Tonfall, den ich von Licher nicht kenne, den ich ihm nicht hätte zuschreiben können, und wollen, denn es wird immer klarer, dass dies eine intime Situation ist, dass die beiden Männer sich vertraut sind, dass eine große Sympathie zwischen beiden besteht, mehr noch, eine Nähe, wie sie unter Freunden und Bekannten nicht gängig ist, darauf verweist etwas ganz deutlich:
Es ist neckisch, es wird kokett, geradezu herausfordernd, was da geredet und gesagt wird, auch, wenn ich den Inhalt nicht verstehe, wenn die Auslassung unter dem Tisch, gepaart mit meiner Angst, die Akustik und die Worte verschluckt, kann ich das jetzt hören, dieses Einvernehmen des Spielerischen und letztlich dann auch die Erotik, die zwischen den beiden knistert und die Atmosphäre anreichert, spürbar auch für mich, denn es ergreift mich eine Art
wohliges Schaudern, vom Unterleib bis in meine Lendengegend fahrend. Vielleicht ist es die Ungewissheit und das Verbotene, das Voyeuristische meiner Position und Situation, was mich da so kitzelt? Jedenfalls stehen die Männer jetzt am Schreibtisch und küssen sich. Es entstehen schmatzende Geräusche, untermalt von höher frequentierter Atmung. Der Platz, an dem ich mich befinde, ist optimal - wenn ich den Kopf etwas nach vorne neige, schräg nach oben die Auslassung verlassend, sehe ich die beiden Oberkörper, die mich jedoch umgekehrt nicht sehen und bemerken, denn sie befinden sich mitten in einem Geschehen, das seinen Flow bereits erzeugt und sie ergriffen hat, sie bekommen nichts Äußeres mehr mit, sie gehören sich und der Situation jetzt vollständig, was auch durch die ansteigende Lautstärke deutlich wird, mit der ihre gesteigerte Atmung vorgetragen ist.
Am Tisch, mit dem Rücken zu mir und Licher zugewandt, steht der mir irgendwie vertraute und bekannte Mann - es ist zu dunkel, um ihn nur anhand seines Hinterkopfes und Rückens zu identifizieren. Vor ihm, ihn immer wieder in eine konkave Beugung drängend, steht Licher, der dieses Geschehen zu bestimmen scheint, der die Handlungen dominiert und vorgibt. Jetzt dreht er den Mann um, der beugt sich vor, senkt den Kopf nach unten und stützt sich
mit den Händen auf dem Schreibtisch ab, Licher nestelt angestrengt und konzentriert an seinem unteren Rücken herum, er keucht jetzt, flucht plötzlich, was den anderen dazu verleitet, ihm zu helfen, indem er sich die Hose selber runterzieht, dann stützt er sich wieder ab, ein Ruck fährt durch seinen Oberkörper und ein kurzer Schrei entfährt ihm und erstickt. Licher bewegt jetzt den Rumpf und den Kopf rhythmisch nach vorne und hinten, immer wieder, keuchend und, ja - irgendwie brummend oder summend - während der andere sein eigenes Stöhnen teilweise unterbricht und „langsam!“ ruft, „warte!“, oder „nicht so schnell!“.
All das nehme ich wie in einer Art Trance wahr, befeuert von gegensätzlichen, sich teils aneinander potenzierenden, und dann auch wieder gegenseitig nichtenden Emotionen und Affekten. Ich schließe die Augen, kurz, ganz kurz nur...
Ich muss dann irgendwann versunken bis weggetreten sein, ich bemerke nicht, dass die beiden den Vorgang scheinbar beendet haben. Jedenfalls bin ich wieder alleine, finde mich unter dem Schreibtisch meines Psychiaters vor, eine Akte neben mir liegend, auf deren Deckblatt mein Name steht.
Wie und wann ich den Raum verlassen und wieder in mein Zimmer gelangt bin, kann ich nicht konkret erinnern und rekonstruieren. Jetzt ist es 1h24, ich bin sehr, sehr müde und ich werde wieder und defintiv NICHT SCHLAFEN KÖNNEN, das steht fest, da bin ich sicher, wenigstens da...
Dipl.-Hygiagoge im Hygiagogik-Zentrum Nordwest
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