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6 - TAGEBUCHEINTRAG M - 13.3.95
Prognose: Ich schaffe das nicht. Ich werde das Abitur nicht packen, und ich werde der Einzige des Jahrgangs 1995 gewesen sein.
( Ausnahme: C, aus dem LK Deutsch. Der hat sich letzte Woche irgendwo auf die Bahngleise zwischen Melsungen und Kassel gelegt - nicht völlig ohne Pathos, nicht gänzlich unprätentiös und auch nicht komplett „melo-undramatisch“…
Die Geste: Seine akustische Gitarre über der Brust umarmend.
Ich frage mich das immer wieder, wie die veranlassende, existentielle Verzweiflung, die ja monströser zu sein hat, als jeder den Vollzug infragestellende Zweifel, mächtiger als alle Ängste und Ungewissheiten, wie dies also zu vereinen ist, mit Kalkül und Inszenierung einer präzisen „Auffindungs-Situation“, mit Vorstellungen demnach, die den Nachruf zu regulieren und alles persönlich Posthume zu verhandeln haben - weil die Planung und Ausgestaltung eines konkreten Vorgefundenseinwollens ein Handeln im Affekt unwahrscheinlich sein lässt. Es sei denn, es hätte ihn beim Musizieren an den Gleisen plötzlich eine unumkehrbare Lebensunlust ergriffen, es hätte ein depressives UNGEHEUER sich seiner bemächtigt, derer/dessen er sich nicht mehr hätte erwehren können. Klingt jetzt sarkastisch, bar jeder Emphase - und wird es wohl auch sein. Andererseits denke, nein, WEISS ich, dass kein Affekt stärker sein muss, als diese „Trotzmacht“, von der Viktor Frankl spricht, die er im GEIST verortet.
Man muss sich von sich auch nicht alles gefallen lassen, meine ich. Darf der sagen, für den das GILT. Keine Situiertheit ist grundsätzlich zu transferieren, jede Lebenswelt und alles Leid ist EXKLUSIV und exkludierend, absolut und solitär. Nichts kann transsituativ walten, wirken, einzufühlen sein. Alles will und muss durchlaufen - alles muss ERLEBT sein.
So denn - irgendwann wird ein IC oder ICE gekommen sein. Die „Totschlag-Nötigung“ hat der Zugführer ebenso exklusiv, also eine Art ihm aufgezwungenen und nicht zu verhindernden Mord, sozusagen. Der Schock, das Erschrecken und das lebens-lange Trauma gelten jeweils lebens-länglich…)
Es kommt mir gerade vor, als hätte sich diese Geschichte bereits geschrieben, meine Geschichte, unsere, als würde ich lediglich noch den Stift halten, der sich von selbst über das Papier bewegt und jedes Kapitel nur noch in Worte fasst, während es sich ereignet, oder, besser und eher noch: als würden sich die Dinge nur und immer schon ANHAND deren Verbegrifflichung zutragen, vollziehen, begreifbar machen.
So, als wären Ereignisse nur dann, insofern und auf diese Weise REAL, indem und IN DER sie erzählt werden, als trüge sich ihnen im Narrativ und anhand der Berichterstattung das Wesensmerkmal des Ereignisses zu, als seien sie erst dadurch mit einer Gegenständlichkeit ausgestattet und nur auf diesem, gerichteten und kurzen Wege, vom Gesagten zum Gehörten und modifiziert wieder zurück, sich ereignend, in eigentlichem Sinne, fortan verankert, zuträglich und zugetragen, als wären sie also nur insofern ZUGETRAGEN(ES)…
Ich verrenne mich schon wieder, wie die Hand, die den Stift hält und über das Papier führt…
Während ich dies notiere, fühle ich mich erneut beschlichen oder bedrängt, von einem sonderbaren Gefühl der Anmaßung, die das Herumstochern im eigenen Lebenssalat darstellt,
als wäre es eben NICHT angemessen, überhaupt von einer GESCHICHTE zu sprechen, von einer eigenen Erzählung, linear, kausal oder stringent, in Betrachtung all dieser lose herumhängenden, narrativen Fäden, die kaum als Solche zu erkennen und es noch weniger wert sind, aufgegriffen zu sein - von wem denn auch und überhaupt?
Es erscheint mir wie eine nicht zulässige Überhöhung der eigenen Winzigkeit, wie eine kolossale Übertreibung und Verklärung der eigenen, nichtigen Existenz, vielleicht nur aus einem Grunde gesät und gestreut, nämlich um einen benötigten Widerspruch zu reklamieren und zu ernten, dort, wo die eigene Unerheblichkeit (fahrlässig und formal) schon eingestanden - und die eigene Auslöschung insofern bereits eingeleitet und vorangetrieben ist.
Nun - um etwas weniger Abstraktes zu vertextlichen - etwas, das bei erster oder bei neuerlicher Lektüre und auch noch in drei Monaten oder in dreißig Jahren, von Seiten des Verfassers, der gleichzeitig ja exklusiv auch der einzige Rezipient sein wird, was also VON MIR NICHT direkt überflogen und als nervendes Geseier abgetan sein wird - werde ich davon berichten, was letzten Freitag geschehen ist…:
F und ich waren in Kassel und sahen Tilman Rossmy in der LOLITA-Bar. Auch deshalb werden es für alle Zeiten die ersten Takte von „Willkommen Zuhause“ sein, die ich mit diesem Abend in Verbindung bringe, die mich beim Hören unmittelbar zurückversetzen und hineinmanövrieren, direkt rein in das Geschehen dieser Nacht.
F hatte während des Konzerts Mühe, seine abgeklärte Fassade aufrechtzuerhalten, die Inszenierung bröckelte, er schwitzte sehr stark und trank sehr schnell sehr viel Alkohol.
Irgendwann, nach den ersten drei oder vier Songs, tauchten dann Erik, Fabi, Markus D. und diese Merle auf…
Sie schien zuerst nur irgendein weiteres, mit Erik befreundetes Punk-Mädchen zu sein - jedoch eines, das unglaublich durchgeknallt war, vielleicht hängengeblieben auf einem Trip, unter diversen Psychopharmaka stehend, oder beides - infolge des jeweils anderen.
Sie hatte schnell gemerkt, dass ich Sie und ihr ganzes persönliches Dilemma gesehen hatte, vielmehr erkannt, also das, was unter und hinter dieser grellen Mimesis und flatterhaften Maskerade ein Ge-Sicht darzustellen hatte.
Je lauter und lärmender, je bunter und expliziter die visuelle und personale Inszenierung erscheint, desto vehementer jeweils die Angst des Inszenierenden, davor, dass die Maske fällt, dass irgendjemand einen Blick hinter die schweren, blickdichten Vorhänge werfen könnte. Je häufiger jemand Sätze formuliert, die mit „ICH BIN (ein Mensch, der…)“ beginnen, desto unsicherer und fragiler ist das empfundene SO-Sein angelegt und auch extern vermittelt.
Es nervte mich massiv, auch, weil es mir vertraut erscheint, weil mir die Affekte und die grundlegenden Intentionen bekannt sind, weil das Erkennen des Eigenen im Anderen immer auf eine unangenehme Projizierung verweist oder hinausläuft.
Das Wort „Projektion“ ist UNBEDINGT zu vermeiden - um die Gegenfront zu all den freudianisierten und psychologisierten Spacken zu verhärten und zu schließen, um zu vermeiden, dass durch Verwendung dieser einschlägigen Begriffe auch das eigene Begreifen infiziert ist, und sich insofern an dieser psychopathologischen Verklärung nicht nur beteiligt, sondern daran vielmehr auch noch erkrankt - und zwar an Orten und in Gebieten, wo man wenigstens meint, grundsätzlich noch gesund (geblieben) zu sein.
Es gilt daher zwangsläufig jene Gesetzmäßigkeit, die da besagt, dass wir zu Beginn des Lebens eigentlich alles wirklich Wichtige wissen, dass wir wach bleiben müssen, um nicht zuviel zu verlernen oder einzubüßen, um nicht durch Nachahmung des Falschen das Richtige zu vernachlässigen.
Zurück zu Merle: Meine Anwesenheit und mein Blick, also das Angesehensein von mir, irritierte sie auf eine Weise, der sie fortan dadurch begegnete, dass sie nicht von meiner Seite wich, als wollte sie verhindern, dass meine Perspektive um sich griff und sich andere mit meiner Wahrnehmung ansteckten. Sie drängte sich immer wieder offensiv zwischen mich und F - dem das natürlich egal war oder zu entgehen schien, es hatte schließlich und offenbar nichts mit ihm zu tun - und legte irgendwann einen tänzerisch-entrückten Auftritt hin, der mir zu gelten schien, dem ich nicht folgen konnte, weil es mich zu viel an Kraft und Fokussierung gekostet hätte, sie wieder einzufangen, sie in meinem Blick rückzukoppeln und ihr so zu versichern, dass ich sie nun auf diese Weise wahrnahm - auf jene, die sie einforderte und beabsichtigte.
Schau mal, M, DAS bin ich eigentlich, SO sollst du mich sehen…
Der Irrsinn dieses Abends fand seinen Höhepunkt dann bei Fabi, in seiner WG neben dem KAJULÄ.
Nach dem Konzert hatten wir an der Westfalen-Tanke ein paar Träger geholt und uns dann dort getroffen.
Im gemeinsamen Wohnzimmer brannten Kerzen und Räucherstäbchen, die Jalousien waren fast komplett verdunkelt. Irgendjemand trommelte in einem der anderen Zimmer uninspiriert auf Bongos herum, aus der Nachbarwohnung dröhnte der Basslauf von Westbams „Celebration Generation“, und durch die Fensterritzen drangen vom Kasseler Stadtfest noch blechern die letzten Takte des diesjährigen „Sommerhits“ hinein - REDNEX´„Cotton Eye Joe“…
Alles zusammen ergab entweder eine akustische Folter, oder eine wundersame Symphonie des Jahres 1995, je nach Verfassung des jeweiligen Zuhörers.
F drehte und textete nach der fünften oder sechsten Bong wieder einmal enorm auf, und im Normalfall hätte ich ihn einfach angesehen und mich darum bemüht, ihm zuzuhören, ihm die benötigte Resonanz zu verschaffen.
Aber die noch verbliebene Normalität hatte sich mit dem Auftauchen der psychotischen Merle verpisst, hatte feige den Rückzug angetreten und vor ihrer Durchgeknallltheit kapituliert - man konnte es ihr nicht verdenken, der Normalität.
Im Wohnzimmer saßen außerdem noch Fabi´s Mitbewohner Olaf, eine Art Maler, der sich einen Künstler-Habitus angeeignet hat - sensibel, verletzbar, irgendwie entrückt von allem Weltlichen, und dessen echt coole Freundin - allerdings eine, die auf Künstlertypen mit entsprechendem Habitus steht - sensibel, verletzbar, irgendwie entrückt von allem Weltlichen, sowie F´s Schwester Lena und ihre Freundin Katrin, die momentan auch die Freundin von F ist (nicht mehr lange, ich arbeite daran…).
Wir rauchten, kifften und aßen die Spacecakes von Markus D., im Querschnitt also ein regulärer, herkömmlicher Abend, wie viele andere in diesem Sommer, wäre da nicht Merle gewesen.
Es ist erstaunlich, wie die Anwesenheit EINES Menschen die Atmosphäre innerhalb einer vielköpfigen Gesellschaft beeinträchtigen, bestimmen und sogar vergiften kann, sofern diese Person auf eine Weise der eigenen Wirklichkeit entrückt ist, dass keinerlei Realitäten aufzufinden und zu vereinbaren sind, wenigstens nicht solche, in der und anhand derer es möglich wäre, sich gemeinsam aufzuhalten und Wahrnehmungen abzugleichen.
Irgendwann versuchten sich Erik und Fabi wieder daran, Van Morrisons „Astral Weeks“ zu hören, wie es schon ihre Väter vor über 20 Jahren getan hatten. Der Vorgang wirkte wie eine Art heiliger Messe - das andächtige Auflegen des Vinyl, die ehrfürchtige Platzierung der beiden Sessel, zentral zwischen den alten BOSE-Boxen - das Setting und die Vorbereitung nahmen viel Raum-und forderten entsprechend viel Aufmerksamkeit aller Anwesenden ein, und sollten das jeweils auch. Es misslang jedoch erneut, ohne, dass es ihnen hätte bewusst sein können. Sie schauten sich selber beim Hören zu und gefielen sich in der Pose, es reichte ihnen aus, sich als reife Musik-Hörende und als Kultur-Kundige zu inszenieren.
So war es und so ist es immer gewesen: Erik hält eloquente Vorträge über Eskapismus, scheitert aber regelmäßig an jeder IHN BETREFFENDEN, eskapistischen Erfahrung. Ich denke, es ist eine synästhetische Ausstattung, die zum „wirklichen Hören“ befähigt, und wie alles andere steigert sich diese anhand eines gemeinsamen Erlebens.
Merle hatte einen Hund dabei, eine abgerockte Mischlingstöle, reudig, irgendwie verwirrt, zerschlissen und mit einem schrägen Blick versehen. Sie selber rückte von Stunde zu Stunde immer näher an mich heran, bis sie dann irgendwann auf meinem Schoß saß, einen Arm um mich gelegt, mit dessen Hand sie mich hinter den Ohren kraulte. Die Töle schien da schon eifersüchtig zu sein, begann mich zu fixieren - eine Art Machtkampf, dachte ich, aber ich hatte auch bereits 7 Cookies intus (Lena war völlig hinüber - nach dem Ersten…).
Von dem unangenehmen Umstand abgesehen, dass der Hund stark roch, irgendetwas ausdünstete oder ausschied, was extrem ungesund wirkte, nahm bis dahin noch kaum jemand Notiz von ihm. Als wir dann mit Shots begannen, hörte ich wiederum auf, Merle, die Töle, oder irgendetwas zu hinterfragen oder infragezustellen, es war mir alles gleichgültig, ICH war mir egal, auch, weil F sich bereits wieder mit Katrin zurückgezogen hatte, in die Gemächer des Künstlers, was dazu führte, dass ich mich den Annäherungen von Merle nicht mehr entschieden genug zur Wehr setzte.
Menschen, die mit einer narzisstisch-soziopathischen Persönlichkeit ausgestattet sind, fassen die Aufgabe einer Verteidigungshaltung als Zuspruch auf, als Einverständnis. Sie nahm mich dann irgendwann an der Hand, zog mich hoch und hinter sich her, in das größere der beiden Badezimmer, wo sie direkt auf die Knie ging und mir den Hosenstall öffnete. Alles ließ ich mit mir geschehen und über mich ergehen, auch, dass der Hund uns gefolgt war, hatte ich wohl noch registriert, jedoch mit keinerlei Wertung bemessen - es war ja nur EIN HUND - nichts an all diesen Vorgängen irritierte mich noch ausreichend, um eingreifen zu können oder zu wollen. Bis zu diesem einen Moment, in dem der Schock mich an den Haaren aus der Tiefe zog, direkt hinein in das Jetzt und Hier…
Die Situation:
Merle auf den Knien, die Jeans so weit heruntergezogen, dass sie mir das freigelegte Hinterteil entgegenstrecken konnte.
Ich nun ebenfalls auf den Knien, dahinter, eine Hand um Merles Hüften gelegt und darum bemüht, mich ausreichend erregen zu lassen, um dann irgendwann in sie eindringen zu können. Aber es war schwierig, ich war doch sehr hinüber, mittlerweile…
Ich versuchte mich zu konzentrieren, und auch Merles Bemühungen, sich wie eine Pornoqueen zu bewegen und zu verhalten, ihre übertrieben vorgebrachten Erregungsdemonstrationen und die zu laut geratenen Stöhnlaute, all das wirkte künstlich, unecht, beinahe grotesk und inszeniert auf mich. Es hatte etwas Surreales, ich merkte, dass ich kurz davor war, laut loszulachen, prustend, weil ich mich und den Vorgang gleichzeitig auch von aussen wahrzunehmen begann, uns irgendwie von oben sah - ich hatte mich schon von mir losgelöst, getrennt von meiner Leiblichkeit, vielleicht aus einer Vorahnung heraus, um das kommende Widerfahrnis nicht an mich heranzulassen.
Dann wurde es heiss, lokal. Ganz plötzlich und unvermittelt. Heiss, feucht, und unangenehm spröde - direkt an meinem Hintereingang.
Mir schoss - wie ein Stromschlag der Entrüstung - das Bild der Töle vor mein inneres Auge, eine Sequenz nur, wie ein Wimpernschlag, oder ein Dolchstoß, und dennoch ausreichend, um mich in einen Zustand zu versetzen, der mich zittern und frösteln ließ, am ganzen Körper, jedoch nicht vor Kälte, sondern aus Ekel.
Es ging dann alles unglaublich schnell, als würden sich die Dinge zeitgleich ereignet haben, im selben Augenblick, noch nicht einmal minimal versetzt, eher schon übereinandergelegt, ineinandergreifend, in sich verschachtelt:
Ich hörte ein Bellen, hinter mir, laut, kehlig und inbrünstig, zu gleichen Teilen gequält und lustvoll, stieß die völlig entrückte Merle nach vorne von mir, erntete dafür ein wütendes Brüllen (EY DU ARSCH! WAS TUST DU DA? MACH WEITER!), drehte mich mit Unbehagen um, widerwillig und dennoch zwangsläufig, sah zuerst nur die graubehaarten, aufgestellten, zuckenden Ohren des Hundes, rückte mit dem Hintern zur Seite, die Töle knurrte, bellte noch einmal, wütend und wund, und während ich den Rest seines Kopfes zu sehen bekam - die lange, sabbernde und belegte Zunge, die meine Rosette verließ, die gefletschten, gelben Zahnstümpfe, die trüben Augen und den verrückten Blick - biss er zu…
Ich kann wirklich nicht mehr erinnern und wiedergeben, in welcher Abfolge sich dann die Dinge ereigneten, weil ich schon vor diesem heftigen Schmerz, den die Bestie mir und meinem Gesäß zugefügt hatte, den letzten Zugang zu der Situation eingebüßt hatte, ein letztes Bindeglied, dass ich instinktiv durchtrennte, eine natürliche Membran, die zwischen ICH und MICH, zwischen Denken und Fühlen angeordnet ist und die plötzlich abriss, um irgendetwas zu schützen, vielleicht meine Würde, vielleicht das, was man „DIE SEELE“ nennt…?
Okay - kann sein, dass ich mich da jetzt etwas vergreife, dass ich bemüht bin, einem an sich absurden und absolut peinlichen Geschehen eine kognitive, rationale Distanz abzuringen, durch den Versuch, das alles auf eine Meta-Ebene zu heben und mich selber insofern als Teil einer Versuchsanordnung zu erhöhen oder zu verklären.
Ich gehe jetzt nicht weiter in die Details, aber die Eskalation endete damit, dass Olaf die Frau und den Hund unsanft zum Gehen aufforderte, dass der Hund bei deren Abgang in das Treppenhaus kackte, dass Merle eine Fensterscheibe im Hausflur eintrat, und beide, auf ihre eigene Weise protestierend - Merle schimpfend, der Hund knurrend - letztlich das Haus verließen, während sie wirklich bedrohliche Flüche und Verwünschungen in meine und in F´s Richtung SPUCKTE - „ab heute sollt ihr beide leiden, unglücklich sein, euch hassen, DU sollst NIE MEHR ruhig schlafen können und das lange Arschloch da (sie zeigte auf F) soll VERSCHWINDEN, soll sich auflösen und tot sein, für alle Zeiten einfach TOT TOT TOT…“
Noch während die Verrückte ihre Tiraden herauswürgte, ihre Worte wie Salven der Verderbnis auf uns werfend, legte sich ein sonderbares Gefühl auf mich, eine Dunkelheit, die mich und meine Lebenswelt abschattete, anders, als ich es gewohnt bin, nicht in Form der üblichen Sinnlosigkeit und der Leere, die ich ja kenne, die mir unheilvoll vertraut ist, sondern durchaus bedrohlich, dräuend und etwas verheissend, was mit Verlust und mit Endgültigkeit zu tun hat, und was vielleicht auch nicht nur und nicht direkt mich betrifft. Da war plötzlich eine Enge und Bedrängung, die ich körperlich spürte, eine Ausweglosigkeit, von der ich bisher nichts gewusst hatte, die mich anzufallen schien und mich mit einer düsteren Ahnung konfrontierte, die umso beklemmender wirkte, als ich mir gewahr zu werden schien, dass nicht ICH betroffen und gemeint sein würde, sondern jemand, der mir sehr nahe steht und mir lieber und wichtiger ist, als ich selbst:
Ich WUSSTE in diesem Augenblick, dass ich zwar angesprochen und adressiert war, nicht aber unmittelbar und existentiell, dass da ein großes Leid sich bereits ausgelegt hatte, eine mächtige Welle des Kummers, die sich schon sammelte, die noch einatmete und mich und alle Anwesenden zwar ergreifen würde und taumeln ließe, die aber nur EINEN eigentlich meinte und untergehen ließe, die ihn wegspülen würde, fort von mir, fort von uns, die ihn radikal und unvermeidlich AUSZULÖSCHEN bestimmt war.
Ich schreckte hoch, wie aus einer Trance, sah mich um, suchte F - und fand ihn nicht.
„WO IST F?“, fragte ich, wie aus einem Affekt, eigentlich nur ausatmend, niemanden direkt meinend und ansprechend, die Stimme leicht flatternd und bebend, was jedoch von den anderen als folgerichtig empfunden wurde, den Umständen entsprechend und dessen geschuldet, was vor allem mir ja gerade eben widerfahren war. Niemand schien zu ahnen oder zu wissen, dass ich in diesem Moment nicht nur von einer panischen Angst angegangen und ergriffen war, dass vielmehr am Boden meines Empfindens eigentlich schon die Erkenntnis lauerte, dass F weg war, fort, ausradiert, nicht, dass er verschwunden wöre, eher schon, als hätte es ihn nie gegeben, als würde mir nur gerade bewusst werden, dass F nicht existierte, dass er eine Einbildung gewesen war, MEINE Einbildung…
Dieses Gefühl setzte eine Finsternis frei, die meine Wirklichkeit tangierte und sie mit mir wanken ließ, als schöben sich zwei Varianten des Sichtbaren in-und übereinander und hinterließen eine hungrige, alles auffressende Engung, wie diese Wände, die sich in Filmen aufeinander zu bewegen, während man dazwischen steht und der verbleibende Raum immer weniger und kleiner wird. Ich bekam kaum noch Luft, ich schnappte nach Atem, ich rang mit mir um irgendetwas, was mir gerade noch zu ertragen und überhaupt auszuhalten schien, um Gedanken und Gefühle, die es noch zu denken und zu fühlen gab, ohne dass sie mich in einen Würgegriff genommen und mir die Luft abgedrückt hätten.
Kurz, ganz kurz nur, für die Dauer einer vorbeifliegenden Assoziation, verschaffte mir wieder dieser Gedanke ausreichend Distanz, zu mir, zu der Situation und zu meiner Beklemmung oder Beklommenheit:
Das Schlimmste, was passieren kann, ist Sterben.
Im schlechtesten Falle werde ich immer nur einfach TOT SEIN…
Aber auch das ist etwas, das nur im eigenen Kopf sich ereignet - und obendrein noch FALSCH. Sterben ist sicherlich nicht das Schlimmste, was Menschen widerfahren kann. TOT SEIN wird keinesfalls der schlechteste aller Fälle oder Zustände sein.
„Der ist mit Katrin in Olafs Zimmer, der hat gar nichts mitgekriegt…“
Fabis Stimme schien von irgendwo, von ganz weit weg, von hinten oder unten aufzutauchen, klang fremd und entfernt, drang wie durch mehrere Schichten hindurch und unter Wasser gesprochen.
Es war eine Aufwallung von Glück und von Erleichterung, die sich mit diesen Worten zu mir durcharbeitete, die ich kaum in Worte fassen kann, auch, weil das alles fast gleichzeitig zu geschehen schien, voneinander unterschieden nicht zeitlich, als ein Nacheinander der Ereignisse, sondern eher qualitativ, wie Komponenten eines Ganzen, welches auseinanderfällt und seine Einzelteile sichtbar werden lässt.
Als die Haustür endlich zugefallen war, hinter Merle und ihrem Viech, standen wir dann reglos einfach da, im dunklen, kalten Hausflur, trauten kaum, uns zu bewegen, begutachteten die Schäden im Treppenhaus und die Spuren der Verwüstung, die Merles Furor eingeleitet und ihr Wahnsinn dann vollzogen hatte.
Markus D. - als der fürsorgliche Pragmatiker, der er ist - nahm mich dann in den Arm - „alles okay bei dir?“, hakte mich unter, um mich in die Wohnung zu begleiten und sich die Wunde an meinem Hintern anzuschauen.
„Bist du gegen Tetanus geimpft?“
Wie universal und absolut unmissverständlich diese Gesten sind, die körperlichen Signale und Codes, die ein Mensch sendet, um einem anderen seine Fürsorge zuzusprechen, um Zuwendung und Verständnis, um Kümmern und Nähe zu vermitteln - eine Hand unter den Ellenbogen geschoben, der Arm um die Schultern gelegt, zwei bis drei Finger, deren Außenseiten sanft über die Wange streichen - es sind die wortlosen und symbolisierten Vereinbarungen des Leibes, die situativ und an jedem Ort der Welt die Wunden verpflastern und erstversorgen, mehr und eindeutiger, als jeder verbale Zuspruch es vermag, unmissverständlich, klar, und zugewandt.
In jeder dieser Gesten ist ein Aufgehobensein vermittelt, das bereits die Heilung einzuleiten verspricht.
Dennoch brauchte es auch noch die letzten beiden Benzos, die ich in meiner Jackentasche fand, um mich zu erden und um runterzukommen, um das langsam verebbende Adrenalin zu ersetzen, das mir spontan über den Schmerz hinweggeholfen hatte, der mit der Verflüchtigung der Schockwirkung sich immer mehr Raum und Gehör verschaffte. Es tat verflucht nochmal verdammt weh, was das stumpfe Gebiss dieses Höllenhundes da am Fleisch meines Hinterns veranstaltet und hinterlassen hatte - eine ordentliche Risswunde, die Markus D. sorgenvoll begutachtete, sorgfältig säuberte und mit antiseptischer Jodtinktur versah.
Im WC hatten wir uns versammelt, es standen alle um meinen Arsch herum.
Als uns das irgendwann aufgefallen war, als alle gemeinsam dasselbe Bild sahen, mussten wir lachen, erst vorsichtig - ist es erlaubt, zu lachen, jetzt, nachdem…?!? - erst einer, die anderen infizierend und ermächtigend, dann alle und lauthals, am Ende völlig hemmungslos. Lachen nimmt Gewicht von allen Dingen, ist Auflösung, Loslösung, Befreiung. Ich hätte endlos weiter lachen wollen, einfach nur lachen, gemeinsam, mit den Freunden, mit all denen, die mir plötzlich so nahe waren, deren Gelächter ein zartes, aber kräftiges Band um uns legte, eine Verbundenheit knüpfte, die uns einnahm und uns auswies, als in derselben Situiertheit vereint, als IN DIESEM MOMENT etwas teilend, was bleiben würde, was uns nicht zu nehmen war, uns miteinander verband, aneinander band und uns im Augenblick einzuschließen und nach außen abzusichern versprach. Ein stürmisches Lachen, das alles ausgrub, anhob und fortblies, was die Wellen des Wahnsinns an den Seelenstrand gespült hatten.
(…schon wieder die Seele - Jesus Christus - was ist los mit mir…?!?)
Es wird letztlich, vorwiegend und hoffentlich für immer dieses vielstimmige, bald schon kathartische Gelächter sein, das uns ergriff, das von einem auf den anderen übersprang, an das ich mich erinnere, wenn ich an die Nacht denke, in der wir auf dem Tilman Rossmy-Konzert waren…
Es ist spät jetzt, 0h11. Ich bin müde, von der Erinnerung, von den semantischen Ketten, die mich mal hierhin und mal nach dort treiben und mich mit mir verwickeln.
Ein bisschen mehr Stringenz, im Denken, im Assoziieren, im Erzählen und im Berichten, das wäre hilfreich.
Erstmal schlafen, jetzt, morgen dann weiter im Text…
Dipl.-Hygiagoge im Hygiagogik-Zentrum Nordwest
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