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Tagebuch der Sensationen

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MÄRZ 19#1 TAGEBUCH DER SENSATIONEN

Montag, 25.Februar 2019

Sitze immer noch am Beitrag zum Symposium. Habe wie immer alles eingerichtet, Zigaretten, Kaffee, Musik, Ruhe, vor allem Ruhe, ich muss mich konzentrieren! Habe vorhin mit I. telefoniert und ihr mein Dilemma geschildert. Ergebnis: Keiner versteht mich! Und dieses Nicht-Verstehen meiner geistigen Ergüsse gipfelt dann auch noch in der perfiden Unterstellung, ich würde nicht begreifen und durchdringen. Skandal! Perlen und Säue, sozusagen. Wird mir ein Nietzscheeskes Schicksal zuteil? Werde ich erst von späteren Generationen verstanden? Womöglich erst vom Über-Menschen persönlich? Bin ich es gar selbst? Wird mir nur posthum die mir und meiner kognitiven Grandiosität zustehende Anerkennung feilgeboten? Fühle mich alleine. Genialität macht einsam.

Dienstag, 26.Februar 2019

So. Habe den ersten Satz formuliert: Kann es überhaupt und per Definition eine Art "primärer" Welt- Begegnung geben? Sitzt. Wackelt nicht und kriegt auch keine Luft. Hört sich gut an, liest sich akademisch, jetzt heisst es dranbleiben. Meine eigene, ganz persönliche, primäre Weltbegegnung am heutigen Morgen war eine ganz konkret leibliche, ich bin geneigt zu sagen "duodenale"... wo kommt die Angst denn jetzt schon wieder her? Dann klingelt es an der Tür, ein junger Mann und eine nicht junge Frau stellen sich mit "Harmdierks und Ritter" vor, "angenehm", entgegne ich, schüttele die Hände und stelle mich vor: "Spinoza, mein Name!" Das irritiert die beiden kurz, aber sie haben schon eigentümlicheres erfahren, insofern holen sie ihr Buch aus den Taschen und stellen es mir vor: Die Bibel. Auch das noch. Habe dafür keine Zeit, schreibe ja selber momentan eine Art Gegendarstellung, einen Alternativ-Entwurf, sozusagen, da bleibt keine Zeit für die Lektüre der Konkurrenz. Am Nachmittag scheitere ich. Konkret und vollumfänglich. Finde keinen Anschluss an meinen ersten Satz, an mein eigenes Denken. Kann es sein, dass der Beitrag hier schon fertig ist? Liegt ggf schon alles drin, in diesem ersten Satz? Darf diese Möglichkeit nicht ausschließen.

Mittwoch, 27.Februar 2019

A. empfiehlt mir die Dissertation Edith Steins. Bemerke den mir wohlbekannten, widerstrebenden Affekt, das eigene, elfte Gebot, welches da besagt: Wer mir etwas zum Lesen empfiehlt, der traut meiner Vollständigkeit nicht. Frevel! Es ist doch alles da, in mir, ich habe doch alles schon gedacht und bedacht, was könnte den Kreis jemals noch runder machen?

Nun, weil es A. ist, weil das Institut von Prf. S. nach Frau Stein benannt ist, und natürlich um Lernbereitschaft zu signalisieren, denn - wo Lücken und Zweidimensionalität wahrgenommen werden, lässt sich das erfahrungsgemäß nicht durch ein Gehen auf Barrikaden verändern - werde ich mir das mal ansehen. Ich darf meine Vollständigkeit jetzt nicht überstrapazieren, wahrscheinlich erzeugt das Neid und Eifersucht, ich sollte bei der Thematisierung meines Teppichs vor allem betonen, dass ich gedenke, auf ebensolchem zu bleiben, nicht aber, dass mein Teppich ein fliegender ist.

Bin dann aber sehr aufmerksam, wenn Frau Stein hinsichtlich des Zieles der Klärung und letzten Begründung einer Erkenntnis, aus ihren Betrachtungen alles ausschaltet, was bezweifelbar ist, und dabei eben auch die psychophysische Person des Forschers selbst einschließt. Also sich selbst. Also mich selbst.

Aber worüber sprechen, was referieren oder beitragen, wenn das, was ich beizutragen wünsche, sich dadurch ad Absurdum führt, dass ich mich dessen bedienen muss, was ich überwinden möchte?

Eine Strecke mit dem Auto zurücklegen, um zu demonstrieren, dass man sie auch hätte laufen können? Nein, falsches Bild. Aber was tun, wenn alles, was wir jemals aussagen könnten, dann eventuell doch wieder nur Aussagen über den Aussagenden macht?

Wie diesen blinden Fleck umgehen, wenn ich der Fleck BIN und ebenso dessen Blindheit? Wie meinen Standpunkt erkennen, solange ich ihn einnehme?

Oder, Zitat Edith Stein: "Was kann noch übrig bleiben, wenn alles gestrichen ist, die ganze Welt und das erlebende Subjekt selbst?"

Bemerke, dass ich unruhig werde. Fühle mich jetzt irgendwie nivelliert. Man hat mich gestrichen. Um nicht zu sagen: ausgeschaltet.

Am schlimmsten aber ist folgende Vermutung :

Ich hatte es befürchtet. Das hatte irgendwann so kommen müssen!

Bevor ich dann, so völlig auf den Zellklumpen reduziert, der ich ja sowieso immer befürchtet hatte zu sein, auch zu sein, auch sein zu können, wie auch immer, mich in meine Gemächer zurückziehen kann, um dann seit langem mal wieder einen ganz maschinellen, ich bin geneigt zu sagen, cartesischen Schlaf des Gerechten durchzuführen, hätte ich vielleicht noch weiterlesen sollen. Aber später und klüger und besserwissen hinterher, kennt man ja!

Donnerstag, 28.Februar 2019

Wache auf mit einem Kater. Wer war das? Wie kann das sein, wodurch? Das hat mir gerade noch gefehlt, dass ich jetzt neuronal-historisch mich entlade, zu allem Überfluss!

Wobei das ja wohl mal grad so gar nicht stimmt und passt, was kann denn in meinem Falle überfließen, so auf die Minimalsensorik reduziert, wie mich die halbwissende Fachwelt gestern hinterlassen hat!

Erste Aufgabe wird sein: Ich muss mich jetzt schleunigst mal wieder konzentrieren!

Sonst wird der Beitrag niemals fertig. Es sei denn, mein Höhenflug hinsichtlich der Primärbegegnung trüge tatsächlich schon alles in sich, was es noch zu sagen, zu fragen und zu wissen gegeben hatte!

Wäre ja nicht das erste Mal, siehe der eine, der andere Grieche da, mit dem Wissen und dem Nichtwissen, ist ja schon vorgekommen, dass Männer die Welt in einem Satz erklärt haben.

Edith Stein fügt jedenfalls noch hinzu, dass in Wahrheit noch ein unendliches Feld reiner Forschung übrigbliebe!

Ich brauche Kaffee. Und Ritalin, wenn das so weitergeht. Die Zeit drängt so possierlich.

Vielleicht hätte ich Herrn Harmdierks und Frau Ritter doch nicht so unaufgefordert in die naturwissenschaftlichen Schranken weisen sollen, vielleicht waren Sie gar Gesandte, wer kann das jetzt noch wissen, ich definitiv nicht mehr, mir entgleitet die eigene Rahmenkonzeption ja gerade vollumfänglich, echt mal jetzt!

Vielleicht hätte ich sie -auf einen kleinen Dialog nur- auf einen Kaffee und einen Bienenstich?

Um dann mit meiner Allzweckwaffe sie niederzustrecken: "Aber Herr Harmdierks, Frau Ritter, bedenken Sie doch bitte, wenn da einer schöpfen können sollte, dann muss es ja irgendetwas geben, aus dem er schöpfen kann, mit seiner Kelle, irgendeine Quelle oder irgendeinen Ursprung oder so, wäre ich gespannt gewesen, was die darauf zu entgegnen gehabt hätten, wahrscheinlich wären sie direkt und vollumfänglich konvertiert, von Jehova zu irgendetwas Strukturellem, oder Spirituellem, oder zu Spirituosen, ist ja alles möglich, wenn man so direkt und kathartisch eins mit meiner Aporiekeule übergedroschen bekommt...

Apropos Aporie, wo war ich hinsichtlich Edith Stein jetzt noch grad!

"...was keinem Zweifel unterliegt, ist mein ERLEBEN des Dinges ( das wahrnehmende, erinnernde oder sonstwie geartete Erfassen )..."

Freitag, 01.März 2019

Bin seit kurzem abgelenkt, kann mich nicht konzentrieren, weil ich etwas erinnere, und irgendwie auch wieder-hole:

Wie ich hier sitze, in unserem Garten, die erste Frühlingssonne scheint, T. sitzt auf meinem Schoß, wir essen Weintrauben. Es ist still, wir spucken Kerne auf die Terrasse.

Ich versuche, nicht zu denken, indem ich genau das denke: Ich sollte jetzt nicht denken.

Bin kurz geneigt zu finden, dass dies ein guter, ein richtiger Gedanke ist. Der Erfolg stellt sich ja auch direkt ein, indem ich dies denke: Ich denke ja gar nicht.

Dann nehme ich etwas wahr, T.`s Hand in meiner, seine kleinen Finger greifen meinen kleinen Finger, umschließen ihn, warm, und weich..

Ein Windstoß bewegt die Zweige der Eiche, am Rande des Rasens, der eigentlich nur noch Moos ist. T. zeigt dorthin, wo die Zweige sich biegen, wie von einer Geisterhand bewegt, staunt, sieht mich an. Ich bin kurz davor, ihm das Wesen des Windes zu erklären, Newton, Physik, ist ja alles bewiesen, sogar mit Formeln. Aber er hat gar keine Fragen.

Dann, ganz plötzlich, beugt sich einer dieser vom Wind bewegten Zweige, taumelt nach unten. Ein Eichhörnchen klettert bis an die Spitze der hauchdünnen Verästelungen, eine Eichel im Mund. T. gluckst, lacht auf, seine Finger drücken meine, wieder sieht er mich an. Ich kann fast eintauchen, in den Glanz und in die Weite seiner Augen, denke ich.

Und warm ist mir, das spüre ich. Und dann ist da, ganz ohne Ankündigung, ohne kognitiven Vorsatz, ohne mich, der da ordnend einzugreifen gedachte, kein Gedanke mehr, weil ich das alles, was ich gerade notiere, später hinzufügen muss. Nur der Wind ist da, der große Baum mit dem immerselben Stamm und den immer wieder wechselnden Blättern - momentan sind sie hellgrün - mein Sohn, seine Hand in meiner und diese Wärme, die sich ausdehnt, mich von Kopf bis in die Eingeweide durchdringt und durchströmt.

Ich habe keine Angst. Nein anders, ich habe Angst. Aber es ist nichts, was ich nicht zulassen könnte.

Ich habe keinen Impuls, keinen Erklärungsansatz, keinen ordnenden Reflex.

Für die Ewigkeit von ca zwei Sekunden.

Und genau in diesem Moment, für diesen Augenblick, gibt es da kein Vorher und kein Nachher, kein drüber, drunter und daneben.

Alles fügt sich und ist eingepackt, in diese Begegnung.

Dann ergreift mich eine Unruhe, ich muss wieder ins Hier und Jetzt, oder eben da raus, wie man es nimmt, die Zeit drängt.

Morgen muss der Beitrag für das Symposium fertig sein.

Mein grandioser Geist sucht mindestens das Urphänomen, das muss doch denkbar sein!

Ich muss mich jetzt hier mal konzentrieren!

Echt mal jetzt.

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Autor Florian Giesenhagen

Dipl.-Hygiagoge im Hygiagogik-Zentrum Nordwest

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