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Entschuldigung, haben Sie eben in meinen Waldbrand gespuckt?

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JULI 20/2 "Entschuldigung, haben Sie eben in meinen Waldbrand gespuckt?"

Gerade gelesen, dass Tom Cruise 20 Millionen für seinen nächsten Film bekommt. Es sei ihm gegönnt. 

Aber, und dies im Bemühen um Respekt, vor dem Menschen und vor dem Schaffen des Einzelnen: 

Ginge es ohne diesen Film und ohne das Mitwirken von Herrn Cruise einem einzigen Menschen schlechter?

Wofür 20 Millionen, wenn der einzige Benefit darin besteht, dass wir für ca. 90 MInuten unserem eigenen Alltag entfliehen und uns mehr oder weniger gut unterhalten lassen?

Ich verstehe das nicht. 

Vielleicht sollten wir häufiger und genauer zuhören. Auch und zuvorderst Jenen oder Solchen, die etwas zu sagen haben oder hatten, die Erfahrungen gemacht haben, die uns ggf. noch abgehen.

Ich habe Christoph Schlingensief schon bewundert, als er noch laut und am Schreien war, und genervt und demaskiert hat, aber wirklich berühren tut er mich mit allem, was er seit 2008, während und nach der Krebsdiagnose, von sich gegeben, mitgeteilt und produziert hat, und berühren heisst nicht bemitleiden. 

Es betraf ihn wirklich, man merkt ihm die Betroffenheit jederzeit an, er bemüht sich nicht darum, vermeintliche Stärke zu inszenieren, seinen Abgang einzuleiten, sondern er lässt sich und seinem Redefluss, seinen Emotionen, seiner Verzweiflung und seiner Gebrochenheit freien Lauf, er tropft und leidet aus allen Poren, er spricht um sein Leben und er lässt das zu und uns daran teilhaben. Als hätte sich ihm durch das Brechen seines Bodens die Tiefe geöffnet, in die er sich traut und uns auffordert, zu schauen.

"Ich will auf alle Fälle leben. Aber nicht, um wieder in diesen blinden Trott zu verfallen, noch schneller, noch mehr, sondern ich will ein Leben leben, das einen Sinn ergibt und sich den Menschen nähert." ( C.S., 2008 ) 

Das erinnert mich dann auch an Heisenberg, der vor seinem Ableben sagte oder gesagt haben soll, dass er sich zwar sein ganzes Leben mit Physik beschäftigt hat ( und dies gar nicht so erfolglos…), ihm aber gegen Ende nur noch eines wirklich wichtig erscheint: die Menschen, die er getroffen hat.

Das sind doch Aussagen, die man wirklich ernst nehmen muss, gerade weil die Sprechenden sich nicht schonen, im Angesicht der Angst und des Endes und im Gefühl eines großen Verlustes - des Lebens - Erfahrungen machen, die für sich stehen und existentiell sind, die man sich nicht anlesen kann, die nicht zu erwerben oder erlernbar sind, nicht rezitierbar und auch nicht zu provozieren. Das ist doch angewandtes Wissen, was da publik wird, da spricht doch jemand wirklich mit sich und zu uns, da teilt uns jemand etwas mit, was ihn in seinen Grundfesten erschüttert, das seinen Grundentwurf infrage stellt, ihn ins Straucheln und in die Aporie bringt, warum hören wir das nicht, warum ist uns das mehr egal, weniger eine Lehre?

Auch dann, wenn die Tiefenphänomene unseres Daseins in letzter Konsequenz eventuell nicht teilbar sind, weil sie ERFAHREN werden müssen, um begreifbar zu sein, zu durchdringen und zu BETREFFEN - das muss uns doch wenigstens interessieren, berühren, treffen? 

Ins Stolpern müssten wir geraten, auf der Flucht, Beinschuss, mindestens.

Vielleicht müssen wir uns mehr trauen, uns mehr rauswagen.

Vielleicht ist Erkenntnis weniger eine Frage von sehen können, als von mutig sein.

Vielleicht ist uns aber auch die Betroffenheit, oder die Fähigkeit dazu, einfach abhanden gekommen. Vielleicht sind wir einfach überfordert, von ständig wechselnden und sich überlagernden Bildern und Einstellungen? 

In etwa so, wie in Folge des elften Septembers, wo die Bilder derart gewaltig waren, dass die Endlosschleife der einstürzenden Gebäude, der aus den Fenstern springenden, schreienden, brennenden Menschen irgendwann eine Abnutzung erzeugte, eine Stumpfheit, die uns mindestens einer Dimension beraubte, im Zweifel natürlich der Tiefe. 

Das hat uns nicht oder nicht mehr betroffen, wie denn auch? „…ach so, ja, da sind Passagiermaschinen in Wolkenkratzer geflogen, jetzt sehe ich das, aha. Da springen Menschen in den Tod. Genau. Die brennen und die schreien, sieht man ja. Schrecklich. Was läuft denn auf dem ZDF? Dasselbe?" 

Dieser Redefluss, der Schlingensief da ergreift, nach dem Schock der Diagnose, die Angst im Nacken, Shen abgerissen, Leiblichkeit nicht eingefädelt, Kontakt zu sich und anderen und allem irgendwie verloren, das alles lässt er einfach zu und laufen, lässt sich reden und uns teilhaben ( Empfehlung: die Interviews ab 2008, auf Youtube ).

Genau das ist es, was ich bewundere, dieses Ignorieren jeglicher Gepflogenheit unseres Leid-Wesens, das Scheissen auf die „stille Andacht", der Verzicht auf Ornament und Himmelreich, auf Erlösung und auf Jenseits, selbst die Verzweiflung und die Auflösung noch nutzend, um zu produzieren, kreativ zu sein, die Klarheit in der Verklärung suchend, immer bemüht und kämpfend um Aufrichtigkeit, Autonomie und Authentizität.

Er schreit uns alle an, die Kranken und Gesunden, die Ignoranten und die Versteher, die Nächsten und die Entferntesten, er stellt uns etwas zur Verfügung, was wir noch nicht schätzen und einschätzen können: 

Den Auflösungsprozess des Wesens Mensch, wenn alle Mimetik und jegliche Überzeugtheit, wenn der vermeintlich solide Grundentwurf und das Rollenspiel sich dem eigenen Fühlen und Denken entziehen, wenn Körper und Geist sich trennen, die Empfindung abreisst, oder deren Routinen.

Und das letztlich famose ist dann auch ( im Hoffen darauf, von den "Hinterbliebenen" nicht missverstanden zu werden) : 

Da kommt jemand zu sich. Da fällt alles ab, was angehäuft wurde, wovon uns weisgemacht wird, wir bräuchten das, so ist der Mensch, Psyche hier und Seele da, ICH da drinnen und ihr da draussen, alles Bullshit, alles Oberfläche - was da ganz am Ende übrig bleibt, ist das, was wir alle teilen, und nicht wahrhaben wollen oder können, was sichtbar wird und sich den Sinnen offenbart, dieses kleine Fünklein Mensch ( Jakob Böhme ), in seiner ganzen Schönheit, seiner Verzweiflung, seiner Erhabenheit. 

Vielleicht ist es das, was Jose Sanchez meint: jeder Sterbende hat sein Schicksal vollzogen, unabhängig seines Alters. Das ist Trost, aber einer, der tief ins Fleisch schneidet.

Und es ist Anmaßung, wenn der Sprechende nicht betroffen ist. Aber es klingt richtig.

Irgendwie fehlt das, diese Aufrichtigkeit, auch und gerade im Leid, in Zweifel und Verzweiflung, in Brüchen und Gebrochenheit, in Krankheit, Schwäche, Scheitern, Angst und Trauer.

Wer soll und wer könnte uns die Würde denn nehmen, wenn sie unantastbar ist? Das ist doch richtig, das ist doch entscheidend, dieser Artikel, dieses Grundgesetz, da haben wir uns doch was bei gedacht! Das ist doch die grandioseste menschliche Errungenschaft, das wir das einfach mal festgelegt haben, auf das wir uns alle daran orientieren können: Unsere Würde ist nicht antastbar, niemals, am allerwenigsten die der Kranken, der Schwachen, derjenigen, die sich auf kaum noch etwas verlassen und berufen können, die ihre Autonomie einbüßen, weil sie unserem Normativ von Gesundheit und Normalität nicht mehr entsprechen oder entsprechen können, weil sie durch dieses Raster fallen, wenn die Kraft fehlt, zur täglichen Inszenierung, zur Teilhabe an der großen Spaß-und Verdrängungsmaschine, wenn die Routinen und Gewohnheiten, wenn all die Habitate sich auflösen und selbst der Weg zum Bäcker, zum täglichen Mettbrötchen ( Schlingensief ) ein nicht mehr gangbarer ist.

Dann sollen sie am besten still sein, sich zurückziehen, für uns unsichtbar werden und leiden, weil wir das ja nicht aushalten, diese Konfrontation mit der Wirklichkeit, mit solchen Optionen von Wirklichkeit, die immer nur die anderen befallen und betreffen. Und ein Krebsbuch ist dann legitim und gut und verkauft sich, wenn uns da einer Heilung und Katharsis vorheuchelt, da können wir dann auch mal entspannt den Leidensweg verfolgen, in den ersten Kapiteln, wenn hinten schon draufsteht und versprochen wird: Er hat es geschafft! Er hat es besiegt! Er hat gekämpft und all unsere Pillen geschluckt, es hat sich gelohnt, er ist zurück, und natürlich noch stärker als zuvor!

Was ist das für eine Gesellschaft, die all das tabuisiert, was uns verbindet und gemein ist, die den Finger auf die Lippen legt, wenn einer mal ausspricht, wovor wir alle fliehen und weglaufen, die die Konfrontation mit Widerspruch und Mehrdeutigkeit nur dann gestattet, wenn ein Happy-End im Klappentext versprochen ist?

Warum diese Fluchten, dieses Wegsehen, warum die Taubheit und die Mutlosigkeit, die Ironie und der Zynismus?

Es ist so anstrengend, so müßig und, ja, leider auch so langweilig, diese inszenierte Abgeklärtheit, dieses Allwissen, dieses über den Dingen stehen, aus sicherer Entfernung den anderen und sich selbst begegnen, der Rückzug in das Nichternstnehmen und Nichternstgenommenwerdenwollen.

Das sind wir doch nicht wirklich, so können wir uns doch nicht wollen!

Und wenn dann etwas, ganz plötzlich und unerwartet, mal ernst zu werden droht - eine unklare Diagnose, eine Erkrankung, ein Abschied, ein Unglück, irgendetwas eben, das ausreichend mächtig ist, uns zu konfrontieren, durch den trüben Schleim unserer Sensorik und unserer Empfindungsroutine zu dringen, den Boden zu brechen und die Tiefe zu öffnen - dann scheint es, als würden wir kurz erwachen, aus dem Halbschlaf und dem Dämmerzustand, dann stehen wir da, verwundbar, zweifelnd, demaskiert und es entstehen Möglichkeiten, Potentiale und wir müssen uns entscheiden: Auseinandersetzen oder weglaufen? Weiterfeiern oder die Polonaise verlassen? Und wir denken vielleicht „scheisse, das ist ja ernst, das betrifft mich ja wirklich", kein noch so grandioser Selbstentwurf kann sich wie ein Mantel darüber legen, dann sind wir plötzlich am Leben, schmerzhaft lebendig.

Um bei nächster Gelegenheit wieder die Flucht anzutreten oder fortzusetzen, Begegnungen zu vermeiden, das Versteckspiel wiederaufzunehmen, vielleicht einfach aus Gewohnheit, weil wir uns vermeintlich damit auskennen, uns orientieren können und nicht verlaufen.

Da bräuchten wir dann Hilfe, aber die bekommen wir nicht auf den eingetretenen Pfaden, weder beim Arzt, noch beim Kinesiologen, weder beim Psychologen, noch beim Homöopathen, weil das, was wirklich helfen würde, diese uns bedrängende Aporie, nicht der Gegner, sondern die Möglichkeit ist, nicht "kuriert" gehört, sondern kultiviert, eingesetzt, genutzt und hinterfragt, körperlich und meta-emotional, geistig und meta-kognitiv.

Weil die Freiheit und die Verantwortlichkeit des Kranken und des Sterbenden per Existenz bestehen und nicht dort enden, wo die Kompetenzen und die Fertigkeiten unseres Gesundheitssystems und seiner Akteure ein Ende finden und somit auch die Autonomie der Ersteren begrenzen.

Es scheint hier und jetzt auch nicht mehr vorgesehen oder hineinzupassen, es kommt einer personalen und zwangsläufigen De-etablierung gleich, wenn jemand mal wirklich Klartext von und über sich redet, sich mal zeigt und mal offenlegt, wie es eben auch laufen und aussehen kann.

Ich ärgere mich maßlos, wenn ich all die abgeklärten, vorurteilenden und kategorisierenden Kommentare zu Schlingensiefs Operndorf lese oder höre: "Kolonialistisch", "der weiße Mann auf der Sänfte" etc.

So what???

Jeder Furz, den er und seine Leute in Afrika lassen oder ließen, entfaltet mehr gesellschaftliche Relevanz, Bedeutsamkeit, Beteiligung, Begegnung und riecht mehr nach wirklich etwas wollen, schaffen und verändern, als es 100 Jahre ironisch-abgeklärt schwätzen und aus der Distanz besserwissen jemals könnten.

Wir wissen ja sowieso schon von Vornherein Bescheid, über  Intentionen und Verläufe, durchschauen oder bezweifeln jedes noch so edle Motiv und hohe Ziel, trauen keinem Akteur und keiner Pionierarbeit mehr über den Weg, weil wir uns eben selbst nicht trauen und das Vermögen und den Mut, nicht nur von uns auf andere zu schließen, längst eingebüßt haben.

Klar, da steckt jetzt eine Menge Verdruss und bestimmt auch Projektion drin, in dieser Echauffierung, denn wir erfahren ja seit Jahren Ähnliches mit der HYGIAGOGIK, im Versuch, einen neuen ( und , ja, innovativen…) Beruf an einer Schnittstelle zu etablieren.

Der Vergleich hinkt bestimmt an einigen Ecken, aber dennoch ähneln sich die Erfahrungen derer, die versuchen, etwas zu schaffen oder zu verändern, andere oder gar neue, eigene, noch unmarkierte Wege zu gehen, sich außerhalb von System und Establishment zu positionieren, die immergleichen Schubladen und Paradigmen mal verlassen oder umgehen zu wollen, an einer entscheidenden Stelle:

Dort, wo es unbequem wird, wo es längerer Auseinandersetzung und Zuhören benötigte, wo noch keine bestehende Kategorie auf Einordnung wartet, da lauern all die Sesselfurzer, die bornierten Institutionen, die Klugscheisser und die Alleswisser, die Abgeklärten, Desillusionierten und Verwaltungsbevollmächtigten. Und sie warten mit den immergleichen Parolen und Argumenten, um direkt im Keim zu ersticken, was das Potential zum Blühen mitzubringen droht.

Und es ist Ihnen auch zuwider, das feinere Besteck überhaupt auszupacken, die bewährte und eingefahrene Dampframme reicht ja völlig aus, einfach plattwalzen, den ganzen Utopisten-Kram, links oder rechts rein, dieses oder jenes Paradigma, nicht dafür heisst dagegen, kein Wikipedia-Eintrag heisst in-existent, wer Visionen hat, der sollte zum Arzt!

Wenn dann jemand auch noch wirklich Absichten hat, ein Scheitern riskiert, vielleicht wirklich aus Begeisterung und Überzeugung agiert, an die eigene Sache glaubt und der Ignoranz mit Argumenten und Beharrlichkeit, mit der Bereitschaft, zu lernen und die eigene Konzeption anzupassen oder zu verändern, versucht, zu begegnen, dann wird es ganz duster, dann lauert die Verleumdungsfraktion, mit Sektenvergleich und mit dem Unterstellen von Bereicherung auf Kosten anderer. 

So, das erleichtert, das mal an-und auszusprechen.

Was kann falsch daran sein, sich den Glauben zu erhalten, der Mensch könne sich verändern, und mit dem Menschen die Gesellschaft?

Die Auseinandersetzung mit unseren Ur-oder Grundentwürfen, mit den Tiefenphänomenen, unseren Ängsten und Zweifeln, die Arbeit an und mit dem, was wir sonst tabuisieren und nach ganz weit hinten phlegmatisieren, die Bereitschaft und die Möglichkeit, uns neu zu orientieren - all dies wäre vielleicht ein Anfang oder markierte eine Gelegenheit, zur Transformation, zur Entwicklung, zur Verständigung, mit sich, mit den anderen, und irgendwann womöglich zur Genesung, denn Genese heisst ja nicht zurück zum Ausgangspunkt, nicht mehr krank-wieder gesund, sondern eben Entstehung und Entwicklung, einfach nur per Definition, kann ja jeder googeln…

Und diese Entwicklung, die Entstehung von etwas Neuem, das Schaffen eines veränderten oder überarbeiteten, gesellschaftlichen Urentwurfs, basierend auf jenen seiner einzelnen Komponenten und Mitglieder, würden wir dringend benötigen.

Sonst merken wir womöglich zu spät, dass uns der ganze Laden gerade und schon länger um die Ohren fliegt.

Aber wahrscheinlich wissen oder ahnen wir das längst.

Auf die Flucht haben wir uns ja schon begeben.

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Autor Florian Giesenhagen

Dipl.-Hygiagoge im Hygiagogik-Zentrum Nordwest

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