Austobung
AUGUST 23/1 # Austobung
Sonntag, 6.8.23
Alles macht weiter. Menschen, die nicht unmittelbar in und von Unglück betroffen sind, machen einfach immer weiter. Und vielleicht ist das auch menschlich.
Vielleicht bedarf es aber auch einen Schritt oder Sprung darüberhinaus, über das Allzumenschliche.
Nur Jene, die vom Schicksal direkt angegangen sind, die in ihrem alltäglichen Sein und mit voller Wucht konfrontiert sind, keinesfalls mehr in der Lage, die Alltagsroutinen aufrechtzuerhalten, die wirft es aus den Bahnen des Gewohnten, während alle anderen, selbst die Nahestehenden, ihre Habitate aufrechterhalten, eingerichtet bleiben in ihren Leiblichkeiten, zwar helfen und unterstützen, vielleicht auch bis zur Erschöpfung - aber eben nicht darüber hinaus.
Zu behaupten, man würde da anders verfahren, ist einzig im konkreten Fall des persönlichen Betroffenseins nachzuweisen, nicht eben in Anmaßung einer Art projektiven Selbstzuschreibung. Diese befindet sich schon intentional in Schräglage, auch, indem sie etwas psychologisiert und reduktionistisch verkürzt, was nur in direktem, leiblichen Angang überhaupt erfahrbar sein kann.
Wie eigentlich und prinzipiell jedes Phänomen menschlicher Sinnlichkeit.
Welch eine Wucht der Verlust des Lebenspartners entfalten kann, lässt sich insofern eben nicht im Ansatz erahnen, nicht, wenn man das potenziert, was es in eigener Sache - der Verlust eines wirklichen FREUNDES - anzurichten vermochte und vermag und immer wieder auch vermögen wird (dreidimensionale Gegenwart nach Augustinus - erinnerte Gegenwart, anschauende Gegenwart, erwartete Gegenwart…).
Auch dann nicht, wenn man versucht einzuordnen, wie das Widerfahrnis der unmittelbaren Konfrontiertheit mit einem solchen Verlust, in der Lebenswelt der Betroffenen wütet.
Das lässt sich nur unmittelbar erleben, in persönlichem Angegangensein und in personaler Betroffenheit.
Die betretbaren Räume von Vorstellung und Projektion büßen vom Grunde auf die Dimension des affektiven Betroffenseins ein. Leiblichkeit artikuliert sich im Erlebnis, in den Zwischenräumen von innen und außen und von Ich und du -nicht aber in vermeintlich wahrnehmbarer, reiner „Innerlichkeit“.
Es kann also hier nicht um Projektion und Vor-Stellung gehen, sondern um das Bemühen um Analytik und Interpretation der teilnehmenden Beobachtung, in Übergang und Vorhaben einer Art zweiten Ordnung - der Reflexion der eigenen Empfindung und handelnden Verwobenheit.
Verlust erzeugt Taumel.
Und der Verlust des Lebenspartners hinterlässt wenigstens einen Taumelnden, vor allem emotional, aber eben auch:
Die gesamte belebte Wirklichkeit betreffend.
Realität, Identität und Rahmenkonzeptionen sind tangiert und wackeln, da mehr, dort weniger, zumeist vehement und bedenklich.
Die Zumutungen sind mit dem Tod der geliebten - und noch mehr der liebenden Person - nicht kulminiert oder gar abgeschlossen, sie sind damit überhaupt erst losgetreten, mit deren plötzlicher und endgültiger Ab-Wesenheit.
Es ist somit erst eingeleitet und ausgelegt, was die SITUATION nach der Erstarrung einfordert, in absolutem Angang und Betroffensein, und in existentieller Konfrontiertheit, die jeweils nicht zu verweigern und nicht dauerhaft zu verdrängen sind - nicht, wenn sich für das Leben und gegen jede Form von Umnachtung entschieden wird.
Ebendiese Phänomene sind es aber vielleicht auch, die letztgebende Grundzüge dessen darstellen, was IDENTITÄT bedingt: Konfrontiertheit, Betroffensein und An-Gang, als Tiefenphänomene, und das Angesehensein, als den frühesten, primären Verweis auf mich (und den Anderen).
Ohne Angesehensein keine Konfrontation mit mir als Person. Ohne Angesehensein von Welt und anderen bleibt das ICH ein noch ungetrenntes SELBST und nicht identifizerbar als Alterität, sondern existiert als Unverschiedenheit und Absolut.
Ähnlich der Letztgebungen dessen, was Menschen im Erlebnis erfahren, im primären Wahrnehmungs-und Welterschließungsgeschehen, im Auf-Schluss einer erlebten Wirklichkeit als erfahrbare und (zu vereinbarenden) Realität - also in Entstehung einer personalen (ICH-) Perspektivität - scheinen diese vier Aspekte durch alle Dimensionen hindurch, bleiben in der Tiefe bedingend, setzend und auslegend, für das Erlebnis und für die erlebende Person, die zu sich selber ICH und zu anderen DU sagen kann ( und somit Identität beansprucht ) - und letztlich auch in dem und für das, was Rombach die SITUIERTHEIT nennt.
Auch dann, wenn (laut Rombach) die SITUATION früher zu denken ist als Konfrontiertheit, Betroffensein, Angang und Angesehensein, wenn diese Dinge sich auf einer grundsätzlichen SITUIERTHEIT erst konstituieren, sich irgendwann aus dieser herausschälen, so betrifft dies eben (die Grundphänomene) Wahrnehmung und Dasein im Allgemeinen, nicht aber das, was in dem und für den Prozess der Identifizierung einer Selbstheit (Identität) sich ereignet, herangezogen wird und konkret bedinglich ist.
Nicht alleine der durchgängige Situationsfluss, der ineinander übergehende, mannigfaltige Situationen aus EINER (aus DER) Grundsituation erhellt und einem wahrnehmenden und (zu) identifizierenden ICH zuschreibt, ist dafür -für die Entstehung von Selbstheit- grundzüglich.
Auch und ebenso letztgebend eine wahrnehmbare, für-wahr-zu-nehmende und sich (dem Wahrnehmungsträger) zugeschriebene Konfrontiertheit mit und in Situationen, ein empfundenes Betroffensein und ein leiblich artikulierter An-Gang, sowie letztlich auch das Angesehensein, welches überhaupt Einen mit Anderem (je Angesehenen und Ansehenden) konfrontiert und somit in Unterscheidung existent werden lässt.
Ein grundsätzlich vorhandenes und bedingendes Angesehensein von Welt und von Anderen realisiert ein Dasein als sich im Fluss befindliches Antworten.
Alles ist Antwort, weil da immer etwas ist, das spricht, das (uns) an-spricht und zu-ruft.
Insofern sprechen wir Sprachen, ist es die Sprache, die spricht und durch uns spricht, und insofern ist es so, dass wir von der Sprache und vom Sein ge-und be-STIMMT sind, mit Stimme, Stimmlichkeit und Stimm-ung ausgestattet und versehen.
Die uns zuge-sprochene Stimme findet sich im Sprechen selbst, so es denn tatsächlich ein und unser Sprechen ist, sofern es DAS Sprechen ist, aus dem die Sprache sich SAGT.
Es ist eine feine Differenz ausgelegt und definiert, zwischen Sprechen und SAGEN.
Das weiterzudenken führt in Bereiche der HERMETIK, in denen ich mich häufig verlaufen und verirrt habe.
Man findet schwer hinein -und auf allen direkten und erdenklichen Wegen unmittelbar wieder hinaus, ohne dessen gewahr zu sein…
Das hier handelt nur vom Bemühen, den gedanklich betretenen Pfaden, auf dem Weg vom Gedachten zum zu Denkenden, Brücken zu bauen, Fährten zu legen, immer wieder, immer neu.
Wo war ich? Habe mich vergaloppiert.
Jetzt fällt mir diese Szene aus dem zweiten(?) OTTO-Buch ein, wie war das da noch -
„Ich bin ein irrender Reiter!“
„Für mich seht Ihr eher aus wie ein reitender Irrer…“
Muss morgen weitermachen.
Montag, 7.8.23
Ist das Phänomen der Identität grundphänomenal gedacht, so sind alle Psychologismen und soziologischen Theorien auszuklammern, um sich auf das zu besinnen, was diesem und jenem tatsächlich und (tiefen-)phänomenal zugrundeliegen mag.
Bilder und bildliche Darstellungen gestalten sich in einer Wirklichkeit des Raumes aus, sind im NEBENEINANDER artikuliert.
Erzähltes und Text bewegen sich in einer Wirklichkeit der Zeit, angeordnet und ausgelegt im NACHEINANDER.
Das, was an Selbstkonzeption und hinsichtlich der Identität bildhaft ausgestaltet ist, betrifft oberflächige Entwürfe und ästhetische Entworfenheit, nicht unwichtig, aber vielleicht nicht essentiell und konstitutiv.
In der Tiefe greift all das, was wir uns und anderen von und über uns erzählen und das, was ein Gegenüber, von dem wir angesehen sind, uns zurückwirft, uns glauben lässt und macht und was dieser uns somit in Spiegelungen überhaupt SEIN LÄSST - ein narratives Selbst, in narrativer Identität.
Je liebevoller und bereinigter diese Reflexionen, desto wichtiger, prägender und entscheidender wird das jeweilige Angesehensein und damit auch die (uns) ansehende Person, immer im Hinblick auf die Selbst-Erzählung und deren Glaubwürdigkeit und Konsistenz, anhand derer wir uns und unser Handeln einrichten.
Das alles will und muss ich aber irgendwie nur einleitend und unterfütternd denken und sagen, weil es hier eigentlich darum gehen soll, was der Verlust jener Person, in und vor dessen Angesehensein wir uns und unsere Lebenswelt einge-richtet und ausgelegt hatten, an-richtet, hinterlässt und bedeutet und wie diese Verheerungen erklärbar sind, die - über den Schock und die Trauer hinaus - den Trauernden zuallertiefst in seiner eigenen Rahmenkonzeption und als Person (be-)treffen, und für sich und Andere das verzerren, was an Charakter eigentümlich, habituiert und vertraut erschien.
Nochmal zur dreidimensionalen Gegenwart nach Augustinus:
Der trauernde Mensch versinkt und verliert sich in
erinnerter Gegenwart. Mit der erwarteten Gegenwart kommt (kurzfristig) die Sinnhaftigkeit abhanden, und die bald schon absolute Engung der anschauenden Gegenwart überspannt die leibliche Dynamik.
Die Vergegenwärtigung der plötzlichen und endgültigen Abwesenheit und das einhergehende Einbüßen der Zwischenleiblichkeit der oder des Liebenden, hinterlässt einen bald mehr als halbierten und fragmentarisch Fragenden, Suchenden, unvermittelt Orientierungslosen, der verloren hat, obschon er wusste, gefunden zu haben, nicht zuletzt:
Sich selbst und das eigene Narrativ, all jenes, was an Identität zeitlich ist und insofern auf einem grundsätzlichen Nacheinander beruht.(s.o.)
Vielleicht rührt es auch daher, diese zu beobachtende und von Betroffenen angedeutete Verlorenheit im Jetzt, der Verlust des Gefühls für Tage und Stunden, für lineare Abläufe, für Alltagsstruktur im Konkreten und für Zeitlichkeit im Allgemeinen.
Es geht dabei womöglich auch um grundsätzlich vereinbarte, nun nicht mehr zu vereinbarende Realität, um geteilte und gemeinsam gelebte, ausgelegte und gestaltete Wirklichkeitsräume, aus denen man vertrieben ist, die entweder nicht mehr existieren, oder nicht mehr betretbar sind.
Die durch und mit dem Verlust entstandene Zurückgeworfenheit auf den eigenen, situativen und konkreten Aufschluss dessen, was wir wahrnehmen, für-wahrnehmen und als wirklich empfinden, verunsichert existentiell und personal.
Das Korrektiv ist dauerhaft abwesend, der die Selbst-und Weltkonzeptionen einbettende Blick ist abhanden, alles, was auf Leiblichkeit angewiesen ist, muss neu gestaltet sein, ohne die vertraute und elementar gewesene Zwischenleiblichkeit, die sich aus der konkreten Anwesenheit des Anderen ergab. In Abwesenheit der gebildeten Schnittmengen, die nur noch er-innernd (nicht aber: anschauend und erwartend, s.o.) hervorrufbar sind, legen sich ganz unmittelbar, plötzlich und unvorbereitet neue, nicht vermittelte Zwischenräume aus, die zu begehen, zu verhandeln und auszugestalten sind, die jedoch zunächst völlig unbekannt, unbetreten und unvertraut bleiben.
Es ent-und besteht damit eine grundsätzliche Fremdheit, in sich selbst, in der eigenen Lebenswelt und Situiertheit, die immer nur momentan Linderung erfährt, indem Präsenz und Gegenwart anderer (An-Sehender) reklamiert und gesucht wird.
Dafür kommen jedoch wenige in Frage - und das auch nur als eine Art Kompromiss, den die Notlage zu vereinbaren sucht. Je aus-schließlicher die Beziehung zur verlorenen Person und je bereinigter die gegenseitige Reflexion sich ausnahm, desto weniger.
Oder anders: Das Exklusive der Beziehung steht dann proportional zur eigenen Exkludiertheit, sowie zur Exkludierung anderer Schnittmengen und Zwischenräume.
Ich muss aufpassen, ich sollte unterscheiden lernen, zwischen dem, was ich teilnehmend noch zu beobachten vermag, was ich also in primitiver Gegenwärtigkeit selber erlebe und erfahre, und was noch trennbar und zu identifizieren ist, als aussen verortete Wahrnehmung.
In die Gegenstände der Beobachtung bin ich involviert und situativ geradezu „verstrickt“.
Da sind gleichzeitig ablaufende Interaktionen, die zu gestalten und zu bewältigen sind.
Da sind aber auch parallel angeordnete Erfahrungen und Empfindungen, einerseits von Trauer diktiert, auf der anderen Seite intentional darauf angelegt, die eigenen Belange, Affekte und Gefühle mindestens runterzupegeln,
um dem vollumfänglich betroffenen Gegenüber etwas bereitzustellen und anzubieten, was am treffendsten noch als reiner Resonanzraum zu beschreiben ist.
Resonanz und Emphase, in der sich geradezu AUSGETOBT werden kann, um vielleicht -wenn auch nur für die Dauer eines Telefonats- sich Luft zu verschaffen, sich aus dem Würgegriff zu befreien, den Trauer, Trauma, Schock und Entsetzen, sowie der erwähnte Verlust der Zwischenleiblichkeit und des Angesehenseins, mit vereinten Kräften erzeugen und aufrechterhalten, in jeder wachen Sekunde.
Das will mir irgendwann nicht mehr gelingen.
Die empfundene Kapitulation, vor der emotionalen An-und Überforderung, lässt mich zunächst schimpfen, schimpfen, und manchmal auch schimpfen…
Nach außen projizierter Ärger soll mich und meine Würde vor dem eigenen Urteil schützen.
Die Integrität, die ich vor mir zu behaupten suche und für mich als Person, Mensch und Freund beanspruche, will ich irgendwie verteidigen, nicht vor Blick und Bewertung der Freundin, sondern vor meinem eigenen Empfinden.
„Ich habe es versucht…“ - das ist nicht genug.
Bemühungen als Solche, noch abseits eines Gelingens, dürfen andere anrechnen und goutieren, nicht aber man selbst, da dies intentional Schonung beansprucht, wo radikale Aufrichtigkeit gefordert ist.
Später, nach den Tiraden des lauten Bellens, verwandelt sich das Versagen, vor der Instanz der eigenen Ansprüchlichkeit,
in ein Gefühl von Scham.
Und das Bedrängendste an allem wird die Gewissheit, dass es hier um Vieles ging und Einiges verhandelt war und manches auf dem Spiel stand und immer noch steht, sicher aber nicht:
ICH, MICH, alles mich Betreffende.
Ohnehin eine situativ sinnvolle oder häufig DIE effektivste Fragestellung, hinsichtlich von innerlich ambivalenten Bewertungsabläufen und heimsuchenden Empfindungen der Schonungslosigkeit gegen sich selbst:
Geht es hier eigentlich gerade wirklich um MICH?
Werde hier tatsächlich ICH -oder auch nur irgendetwas mich Betreffendes- VERHANDELT?
Meistens: Äh, Nein…?
Sich die eigene Unzulänglichkeit, Schwäche und Widersprüchlichkeit einzugestehen, ist jeweils im Nachhinein einfach und folgerichtig, nicht aber inmitten eines solchen Prozesses.
Es wäre der blinde Fleck eben nicht mehr blind, für sich selbst.
Er bleibt es je solange, wie er ungesehen, unentdeckt und noch identisch mit sich ist und mit der eigenen, noch nicht veränderten Perspektive bleibt.
Solange der Fleck ebenjener ist, auf dem man gegenwärtig seinen Stand-punkt verortet (ohne sich dessen vergegenwärtigen zu können und/oder zu wollen).
In kritischem Dialog und Verständigung wird jedoch kein Bestand verhandelt, sondern Potential, kein Sein, sondern WERDEN.
Aussagen wie „Ich bin halt so“, oder „ich weiß, dass ich anstrengend bin“, fehlt es an Distanz zur eigenen Räumlichkeit und Verortung.
Es entfaltet sich so kein Ausblick auf Bewegung, Weg und Wandel (Tiefenstrukturen des Grundphänomens Gesundheit, siehe BLOG „Neufassung der Gesundheit“ auf hygiagogik.com).
Da in solchem Kontext eben kein So-Sein konstatiert, sondern ein Wie-werden auszulegen ist, büßen reine Feststellungen ihren Sinnzusammenhang ein, weil sie den Charakter dort fest-stellen, wo Neujustierungen möglich und - in Sinnfeldern von springenden Punkten - erforderlich sind.
Dipl.-Hygiagoge im Hygiagogik-Zentrum Nordwest
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