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D a R/7

Blog Single

7 TAGEBUCHEINTRAG M - 11.5.95

Vielleicht ist und bedeutet Liebe auch, auf dieselbe Weise wahrzunehmen, akustisch, visuell, sensorisch, auf gleiche Weise zu empfinden, das Erleben im Moment schon unmittelbar abgeglichen zu spüren und sich fortan nicht einmal mehr durch Blicke verständigen zu müssen? Nicht, weil man WEISS, was der andere sieht, hört, fühlt und denkt, sondern weil man es eben (ebenso) SIEHT, HÖRT, FÜHLT und DENKT, weil man das gar nicht erst wissen oder verstehen muss, da beides immer ein Nachtrag wäre, der Unmittelbarkeit des (gemeinsamen) Erlebens nachgetragen, welches man immer schon zusammen erfährt...

Irgendwann hatte sich zwischen F und mir etwas ausgebildet, das nicht nur und in erster Linie UNS VERBAND, sondern vielmehr auch alle anderen auszuschließen begann, sie „draußen“ bleiben ließ, ihnen keinen Zugang zu der von uns vorgefundenen Wirklichkeit mehr gewährte und gestattete. Als hätten wir prozessual eine Exklusivität von Raum, Zeit und Realität geöffnet und betreten, eine Art sich entfaltender, situativer Hermetik, auf die wir uns zwar irgendwie noch vereinbarten, die wir aber nicht mehr beschreiben oder in Worte fassen mussten, in der sich niemand außer uns aufzuhalten vermochte, die kein anderer erleben konnte - von der noch nicht einmal ein anderer WUSSTE. Und vielleicht ist es eine Ermöglichung, die sich mir dadurch öffnet, eine Art Zutritt zum Dasein und zu Menschen, der mir bislang verwehrt gewesen blieb.

Es bietet sich mir etwas an, was mir bis dahin nicht zugestanden hat, von dem ich dachte, es würde sich mir nicht offenlegen: die Teilhabe an sozialer Praxis. Eine stabile, eigene und mir eigenseiende Sprecherposition, eine Art erste Person, die sich entfaltet, aus und in der ich zu agieren vermag, wie eine mir zugewiesene Entsprechung, die mir die Erfahrung und das Auffinden und das Teilen von Innerlichkeit eben überhaupt erst ermöglichen kann. 

Das mir dies nur und ausschließlich mit F möglich ist, teilt ihm eine Verantwortlichkeit zu, von der er besser nichts wissen sollte. Ich hänge mich ohnehin schon zu sehr an ihn, binde mich zu exklusiv an unsere gemeinsame Zeit und an das Erleben, das ich mit ihm teile. Für ihn scheine ich nur einer seiner Freunde zu sein, obwohl ich merke, dass auch er sich - in nahezu jeder Situation - auf mich bezieht, sich über mich definiert und in dieser Person aufgeht und zu blühen beginnt, in der Weichzeichnung, die ich da anfertige, die ich in ihm sehen kann und die ich ihm vermittele, als Angebot, als Bild, von sich. Ich bin mir nicht sicher, ob er das alles auch so wahrnimmt, empfindet und einordnet, ob es möglich wäre, in dieser Form mit ihm darüber zu sprechen. Er kann beinahe gleichzeitig unglaublich weise und dann wieder einfach nur dumm sein, schlicht, gewöhnlich. Es verunsichert mich, nicht zu wissen, was in ihm vorgeht - mich und UNS betreffend. Aber die Unsicherheit wiegt nicht so schwer, fällt nicht derart ins Gewicht, wie es dieses Gefühl tut, das ich habe, wenn er in meiner Nähe und mir insofern nahe ist, wenn ich daran denke, dass es ihn gibt, dass er vorhanden ist, als Mensch, als Möglichkeit.  („ES GIBT IHN?“ - wer oder was „gibt“ ihn denn, und von wem oder durch was...? inwiefern ist/wird ein Mensch „GEGEBEN“...?)


Letzte Woche, im Kino bei Helge Schneider, saß ich neben ihm und habe mich 90 Minuten wohlgefühlt, in mir, an genau diesem Ort und zu exakt dieser Zeit, weil ER DA und ich dort WAR, weil ich ihn atmen und lachen hörte, ihn roch und aus den Augenwinkeln wahrnehmen konnte. Als ließe mich seine Anwesenheit ebenfalls anwesen, als verliehe sie mir eine Präsenz und Relevanz, im Augenblick, die mir unmittelbar genommen ist, sobald wir uns räumlich trennen – als bedeutete das Verliehene ebenso auch ein Geliehensein...

Jedenfalls ist das nicht gut: es macht mich abhängig, von ihm. Es lässt ihn zu wichtig werden, für mich. Es ist nämlich und tatsächlich nicht so, dass ich unter seiner Abwesenheit leiden täte. Es ist eher schon so, dass es mich dann gar nicht zu geben scheint, als wäre ich vorübergehend abgeschaltet, ausgelöscht, für den Moment. Und der Gedanke an die eigene Auslöschung, an die vorangetriebene Nichtung der eigenen Existenz, der hatte sich vorher besser angefühlt, der war vor ihm richtiger, ohne ihn erlösender. Was, wenn es keine Erlösung mehr braucht, weil sie schon eingetreten ist? Was, wenn ich mich jetzt, genau in diesem Augenblick, inmitten einer sich vollziehenden Erlösung befinde, MEINER Erlösung?

Ich sehe gerade, dass mein letzter Eintrag jenen Tag betrifft, an dem mir diese Katastrophe mit der hässlichen Töle widerfahren ist. Dass ich erst jetzt – knapp zwei Monate später- erneut zum Tagebuch greife, dass ich demnach heute, ein paar Tage, nachdem sich erneut etwas ähnlich Befremdliches ereignet hat, das Bedürfnis verspüre, mir etwas aus dem Kopf zu schreiben, was sagt das aus, über mich?

F und ich sind wieder unterwegs gewesen - einfach nur breit und auf der Straße sein, ziellos im Wagen sitzen mit dem Gefühl, irgendwohin zu fahren, von hier nach dort - bewegte Bilder, die an uns vorbeiziehen. Wir fuhren in seinem orangenen Passat, ein Kombi Baujahr´82, ich hatte die Füße auf dem Beifahrersitz hochgelegt, auf die Armaturen über dem Handschuhfach. Er saß am Steuer, die linke Hand im Schoß und mit Zeigefinger und Daumen das Lenkrad von unten betätigend, mit der rechten Hand rauchend, während er sie zwischen den Zügen immer wieder auf der Gangschaltung ablegte. Ich ließ meinen Blick einfach wandern, von einer Sehenswürdigkeit zur Nächsten, schaute auf die hervortretenden Adern auf F`s Handrücken, beobachtete die Wolke des Qualms, die von der Spitze seiner Kippe sich durch das Wageninnere schlängelte, vom Fahrtwind angezogen in Richtung des halbgeöffneten Schiebedachs ziehend, sah nach draussen, wo ich die untergehende Sonne bewunderte, diesen dunkelorangenen Ballon, der sich an den Rand des Horizonts gesetzt zu haben schien, niedergelassen, um dort kurz zu verweilen, für uns, für niemand anderen als uns. Für wen denn sonst?

Aus den kleinen Boxen an den Vordertüren verebbten die letzen Akkorde von Nirvanas „Heart-shaped Box“, dann setzte Tilmans Stimme ein, dem ich zuhörte, bis zu diesen Zeilen, wo es heisst: …“welcher Idiot hat dir eigentlich erzählt, dass die Liebe so schrecklich ist, dass du immer wieder vor ihr wegläufst und dich versteckst, auf deinen, alten einsamen Wegen…“ Soviel Pathos, so prätentiös und schmierig liest sich das geschrieben – und dennoch wunderschön, das alles, wenn und während man es hört – weil Liebe eben NICHT blind macht, sondern eben gerade SEHEND und hörend...Nur hat man das Gesehene exklusiv, man bleibt unter sich, weil alle Nicht-Liebenden auch Nicht-Sehende und somit dafür TAUB bleiben, weil sie nicht teilhaben können, nicht sehen, nicht hören und verstehen werden. Und wenn es da einen Unterschied gibt, einen, der das Sehen und Verstehen betrifft, dann lässt der sich nur SEHEN, nicht verstehen, sagt zumindest Heinrich Rombach.

Ich sah dann irgendwann herüber zu F, der immer noch oder schon wieder rauchte, mit den Fingern der linken Hand auf dem Lenkrad den Takt trommelte und grinste. Er erwiderte meinen Blick nicht, wenn er ihn auch spürte. Ich bin so ungelenk, was das betrifft. Ich habe nichts gelernt, was es im Sozialen bedarf, habe keine Gepflogenheiten entwickelt, nichts ausgebildet, was den Umgang miteinander reguliert. Ich musste immer schon beobachten, Rückschlüsse aus dem Verhalten anderer ziehen, kopieren, imitieren, Rollen spielen und wieder verwerfen. Bin ICH das, bin ich der, der linkisch und unsicher ist, oder ist es das Leben selber und an sich, ist es so mit allen und allem, geht es den anderen auch so, genauso, und haben sie nur früher und besser verstanden, das zu kaschieren, ihre Zweifel zu verdrängen oder zu verkleiden und sich einfach zu bewegen, in diesem Strom, anhand dieses unausweichlichen und nicht vermeidbaren Fließens, von dem wir mitgerissen sind und nach irgendwo bugsiert, verschlagen, hingetragen?


Es war Freitag Nachmittag, der Feierabendverkehr Richtung Kassel hatte seinen Höhepunkt schon überwunden, die Sonne sank von schräg rechts am Horizont, in exakt dem Orange des Passats. Ich erinnere das alles auch deshalb noch genau, weil wir relativ nüchtern waren - außer ein paar Zügen an der Blubbi hatten wir nichts intus, da T noch unterwegs war, um neues Dope aufzutun. Es war dann irgendwo auf der Landstraße nahe Guxhagen, als ich bemerkte, dass er still war, ruhiger als sonst, nachdenklich, introvertiert, irgendwie. Es irritierte mich und ich sprach ihn darauf an, aber wie immer gewährte er niemandem, auch nicht mir, den letzten, entscheidenden und wirklichen Zutritt zu sich und seinem Innenleben. „Alles okay mit dir? Du wirkst irgendwie schräg, so versunken…“ Er schaute mich nicht an, obwohl ich ihm bei der Frage den Kopf direkt zugewandt hatte. „Alles gut, ich denke nur über etwas nach, das mich traurig macht…“ Tatsächlich sah ich dann, dass ihm eine Träne die rechte Wange hinunterlief, einfach nur EINE Träne. Da war kein Schluchzen, kein irgendwie verzogenes Gesicht, da war auch kein Leid zu sehen, keine Trauer vernehmbar, die seine Mimik ergriffen, oder seine Haltung beeinträchtigt hätte. Eine Träne. Das war das Bild, kurz bevor es passierte.

Das Letzte, was ich noch erinnere, ist dieses Schlingern, ein Gefühl, als würden wir entgleisen, ausrutschen, als wären wir vollumfänglich aus der Spur geraten, mitsamt dem Wagen. Im nächsten Moment krachte und knallte und schepperte es, etwas splitterte, jemand schrie - wahrscheinlich ich - ich spürte einen dumpfen Schmerz an meinem Kopf und dachte ganz kurz, für die Dauer eines Gedankens, „jetzt bist du tot… 

Ich registrierte zunächst das Blut, das langsam von F´s Kinn tropfte, wie auch den dumpfen Schmerz, ein mächtiges Dröhnen, das von meinem Schädel in mein Gehirn und in den restlichen Körper drang, als hätte ein Riese einen Stahlhammer geschwungen, und meinen Kopf als Amboss missbraucht, sowie eine Steifheit in allen meinen Gliedern, die ich auch nur abgehackt bewegen konnte, wie in einem dauerhaften Körperkrampf gefangen. Das Visuelle dominierte mein Erleben derart ausschließlich, dass ich noch nichts hörte, obwohl ich wohl sah, dass F den Mund bewegte, ihn öffnete und wieder schloss, dass er zu reden schien, mir Fragen stellte. Er hatte sich hingehockt, hatte seine linke Hand an meine rechte Schulter gelegt, und die Rechte unter meinen linken Ellenbogen geschoben, schien mich sanft dazu aufzufordern, mich aufzurichten und den Wagen zu verlassen. Alles andere ist unwichtig, ist nebensächlich. 

All diese Umstände, die so ein Unfall erzeugt, die Vorkehrungen, die dann zu treffen sind, die wir wie durch Watte erlebten, über uns ergehen ließen, nicht wirklich anwesend - dabei immer sehr nahe beieinander stehend, uns beinahe berührend, an den Schultern - alles darauf Folgende hat und hatte kein Gewicht, denn das, was ich eigentlich hatte berichten wollen, geschah erst in der darauffolgenden Nacht, in den Stunden zwischen 2 und 4h, als ich alleine auf einer Matratze in F´s Zimmer lag.

Nachdem wir das Krankenhaus verlassen hatten, nachdem man uns recht kurz untersucht hatte und F´s Wunde am Kinn verarztet worden war - ich trug auf wundersame Weise keine Schnittwunden davon, ich blutete nicht, ich litt einzig unter heftigen Kopfschmerzen, die aber aus ärztlicher Sicht nicht Symptom einer Gehirnerschütterung sein konnten - holten uns Katrin und Lena vor dem Melsunger Krankenhaus ab. Es war mittlerweile 22h, Lena bestand darauf, dass ich nicht nach Hause fuhr, dass ich nicht alleine bleiben sollte - meine Eltern und Schwestern waren verreist. F war auf eine merkwürdige Weise ruhig, zu still, wortkarg und verschlossen, suchte körperliche Nähe zu Katrin, wesentlich mehr und entschiedener als üblich, was sie natürlich freute und erwiderte, was sie unter Einsatz von weiblichen oder eher schon mütterlichen Instinkten zu einer Fürsorglichkeit verleitete, der F sich nur allzu bereitwillig hingab. Sie wollte auf jeden Fall bei ihm bleiben, und ich nicht alleine, also war der Beschluss, alle zusammen bei F zu übernachten - er und Katrin in seinem Bett, ich auf einer Matratze davor, Lena in ihrem Zimmer nebenan (sie wohnen beide noch für ein paar Monate bei ihrem Vater, in der Oberen Mauergasse). Gegen 2 Uhr erwachte ich mit Schmerzen, die meinen gesamten Schädel zu zerbersten schienen. Der Raum war von den Jalousien komplett verfinstert, aber ich bemerkte sofort, dass ich allein war, in diesem Zimmer, in diesem Raum. Ich begann zu klopfen, erst gegen meine Schläfen und an die naheliegende Tapete, und hämmerte dann irgendwann, panisch vor Schmerzen und Angst, mit beiden Fäusten an die Wand, hinter der Lenas Bett im angrenzenden Raum stand. Nichts rührte sich, niemand reagierte. Die Umgebung begann dann zunächst, sich zu bewegen und irgendwann komplett zu abstrahieren, an den Rändern meiner Wahrnehmung bildeten sich Falten, als würden sich verschiedene Dimensionen aufschichten und übereinanderlegen.

Heute weiß ich, dass F und Katrin - unmittelbar, nachdem sie sich meines (zunächst vorgetäuschten) Einschlafens vergewissert hatten - zu ihr nach Gensungen gefahren waren, um Ruhe zu haben und wahrscheinlich auch und vorwiegend, um ungestört sein zu können. Lena war dabei nicht eingeweiht, hatte Walkman gehört, als die beiden aufbrachen und sich „davonschlichen“... Sie befand sich zu diesem Zeitpunkt, als ich erwachte und zu sterben glaubte, unten im Wohnzimmer, auf der Couch, auf die sie sich gelegt hatte, weil sie oben nicht hatte einschlafen können.

Ich betastete meinen Kopf, mein Gesicht und meine Augen, von denen ich den Eindruck hatte, sie würden im nächsten Moment aus den Höhlen quellen, nach außen explodieren, so heftig empfand ich den Druck, der von innen, aus meinem Kopf und aus meinem Hirn, gegen meine Schädelwände presste und hämmerte. Ich begann zu schreien, hysterisch, in Todesangst, irrte und stolperte durch den dunklen Raum, auf der Suche nach einem Lichtschalter. Als ich ihn ertastet und betätigt hatte, als es schließlich hell wurde, viel zu hell, mich blendend und diesen ziehenden und drückenden Schmerz noch zusätzlich anpeitschend, blickte ich mich um und sah den Spiegel, der an das mittlere Element des IKEA-Kleiderschranks montiert war. Ich krabbelte langsam darauf zu, gleichzeitig zielstrebig und widerwillig, einerseits wissen wollend, wie ich aussah, mit dem einen, mutigeren Anteil meiner angelegten Persönlichkeit um Klarheit ringend, und das auf der anderen Seite - den Feigling in mir aufrufend - auch unbedingt vermeiden wollend, da irgendetwas in mir sich genau davor sträubte, sich gegen jede Form von Aufklärung und Realität auflehnte, mit denen mein Spiegelbild mich unausweichlich konfrontieren würde...

Was ich dann erblickte, war nicht wirklich ich. Es war nicht einmal etwas, das ich mit mir auch nur in irgendeinen Zusammenhang zu bringen mich traute. Es wirkte nicht menschlich, Formen und Farben heranziehend, denen man dieses Attribut verleihen oder zugestehen würde, unter anderen-, unter „normalen“ Umständen. Mein Kopf hatte sich verbogen und verschoben, war aus seiner Form geraten und in einer Art Aufblähung befindlich, in einem Prozess, an dessen Ende unvermeidlich sein Platzen stehen würde. Auf meinem Hals thronte eine Art deformierter Ballon, ausgebeult, konkav an der einen Seite, erhaben und übertrieben konvex am anderen Ende, insgesamt angeschwollen zu Größe (und Farbe) eines 70´er Jahre- Medizinballes, so kam es mir zumindest in diesem ersten, schockierenden Moment vor, in dem ich mich ungefähr und gefühlt eine panische Minute lang glotzend verfing, plötzlich übergehend in eine umfassende Erstarrung, in die mich der Schrecken versetzte, unfähig, mich zu bewegen, unwillig, das Gesehene hinzunehmen, zu akzeptieren, auszuhalten oder nur ertragen zu wollen.


Erstaunlich ist, mit welch vorhersehbarer Gewissheit und Dringlichkeit mein Organismus auf solche Vorfälle reagiert, immer auf die gleiche Weise, viel zu oft erprobt und mir leider zwangsläufig bereits vertraut: Ich kotzte. Einmal, zweimal, dreimal - ich schien alles aus mir herauszuspeien, was sich noch darin befunden haben mochte, alles Halbverdaute, alle Organe, die Muskeln, Knochen, Bänder und Sehnen, jedes Gewebe, vielleicht auch in der vagen Hoffnung, dass sich - durch den in mir nun entstehenden Raum- der monströse Schädel zurückentwickeln würde können, dass mein Körper die sich dadurch entfaltenden und nun vorzufindenden Kapazitäten dafür verwenden würde, alles Angestaute und Aufgeblähte in sich aufzunehmen, um den Schädel zu entlasten, um ihn wieder halbwegs menschlich aussehen und um seinen Eigentümer, also mich, überleben zu lassen. Im selben Moment betrat Lena den Raum, die das Schreien zwar überhört, die kathartischen Kotzgeräusche aber interessanterweise dann doch irgendwie-und wann vernommen hatte. Sie stand einfach nur in der Tür, auf der Schwelle zu diesem Wahnsinn, fasste sich mit der rechten Hand um den Mund, die Augen weit aufgerissen (…und wieder diese Spiegelung, die sich direkt von ihrem Gesicht auf meine Empfindung transferierte, die Panik des Ansehenden...), schrie ebenfalls, jedoch unterdrückt von ihrer Hand, als würde sie sich bemühen, die schockierten Töne und die unheilvollen Geräusche, die ihr Erschrecken erzeugten, wieder zurück in den Mundraum zu befördern, sie zu verschlucken und dadurch ungeschehen zu machen. Es ging alles sehr, sehr schnell. Es ereignete sich wie in einem Zeitraffer, oder in einer Filmsequenz, die man vorspult, weil man irgendetwas entweder nicht sehen will, oder schon zu oft gesehen hat: Da der Ballon auf meinem Hals von sich aus keinerlei Bereitschaft signalisierte, sich zu verkleinern oder auch nur Luft abzulassen, griff Lena schließlich zu den Autoschlüsseln, die auf einer Konsole in ihrem Zimmer lagen, geleitete mich (und den Schädel) die engen, gewundenen Treppen hinunter, über die Straße zum Parkplatz vor der Stadthalle, direkt in ihren Fiat Panda ( dessen Innenraum nicht für solche Art von übertriebenem Schädel gebaut zu sein scheint ) und fuhr mich (und den Schädel) im dritten Gang wieder in das Krankenhaus, aus dem man mich ( OHNE diesen Schädel...) ungefähr 15 Stunden später als annähernd menschlich und geheilt entlassen sollte.

F und Katrin aber waren den Rest der Nacht nicht zu erreichen, hatten entweder „geschlafen“ - wie sie bis heute behaupten - oder waren einfach zu beschäftigt, wie ich für alle Zeiten vermute, mit sich, miteinander und damit, alles zu vergessen und zu verdrängen, was es da zu vergessen und zu verdrängen gab. Um exakt 8h00 am nächsten Morgen sah ich dann, durch das Fenster meines Zweibettzimmers, Katrins Golf vorfahren und in eine Parklücke vor dem Krankenhaus stoßen. Lena hatte ihr irgendwann eine Nachricht aus dem KKH auf dem Anrufbeantworter hinterlassen, die in die Details gegangen war und einen leichten bis mittelschweren Vorwurf sich nicht bemühte, zu unterdrücken. Der Nebel, der sich mit der Morgendämmerung unvermittelt erhoben hatte, wie aus einem und in ein Nichts, begann sich langsam aufzulösen, und mit dieser Auflösung senkte sich eine noch unterschwellige Kälte auf meine Haut, auf die Dinge und die Menschen, die an diesem Samstag auf dem Weg zur nächstgelegenen Bäckerei waren, wie an jedem nordhessisch-deutschen Wochenende davor und danach.


Deutschland hat mich immer schon deprimiert, in all seinen Facetten, Eigenheiten und Beschaffenheiten, die aus der Nähe betrachtet ja eigentlich weniger besonders und eigentümlich wirken, als es die Brauchtümer und Gepflogenheiten anderer Länder und Kulturen tun, die in ihrem konturlosen Deutschsein einfach nur eine bräsige Abgedroschenheit vermitteln, die eine biedere Eingefahrenheit offenbaren und einen Odem einsetzender Fäulnis aufweisen, die jeweils Anlass dazu bieten, sich einfach nur und vom ersten Atemzug an schon ZU TODE ZU LANGWEILEN - lebenslänglich. Vielleicht ist diese Langeweile das eigentliche Privileg, das uns, den deutschen Jugendlichen der neunziger Jahre, zugeteilt und aufgeladen ist. Diese Depression, die das Land vor sich her trägt und die es auszeichnet, die seine Einwohner einebnet, nivelliert und zurechtstutzt, auf das Niveau und auf die Größe von monochromen Gartenzwergen, mit der sie jeden seiner Bürger zeichnet und versieht, die mag in Relation weniger schwer wiegen, als ein Bürgerkrieg, als politische Verfolgung oder als eine Diktatur. Sie ist aber insofern pathologisch, virulent und zersetzend, als es da kein wirkliches Gegenmittel gibt, kein legitimes, naheliegendes Aufbegehren, dass sich einem anträgt und anbietet, weil es durch diese Subtilität und Unterschwelligkeit, durch die Niederfrequenz seines Grauens, einfach nicht greifbar und NICHT ZU FASSEN ist, weil da immer irgendjemand angekrochen kommt und behaupten wird: “…was beschwert ihr euch eigentlich, ihr verwöhnten Arztsöhne und Lehrertöchter, habt ihr jemals Hunger leiden müssen, fehlte es euch an irgendetwas, haben wir euch nicht ALLES gegeben, ALLES überlassen, in einwandfreiem Zustand, alle Möglichkeiten habt ihr gehabt, hört endlich auf, euch wie verzogene Rotzgören aufzuführen…“ Und sie haben ja auch Recht, sie liegen ja alle auch irgendwie und einerseits richtig damit - wir sind nicht dazu berechtigt, zu darben, sind nicht befugt, zu leiden und uns zu beschweren, wir sind eine bevorzugte und mit den Erblasten des Wohlstands und Vergessens privilegierte Generation. Vielleicht ist das die eigentliche Beschwerde, die wir nicht vorzubringen wagen. All unser potentielles Aufbegehren, jede unserer möglichen Auflehnungen, zerschellt an der absoluten Verdrängung, mit der ihr euch und der Geschichte begegnet. Indem ihr eure Vergangenheit nichtet und euch einer Aufarbeitung widersetzt, verurteilt ihr gleichzeitig uns zu einer halbseitigen Erblindung, die mit der Historizität auch die eigenen Wurzeln zu übersehen hat. Ihr reklamiert eine Schonung, auf die es niemals einen Anspruch geben kann. Da ist keine Ent-Schuld-igung, außerhalb der wirklichen SÜHNE, keine Vergebung, die nicht unmittelbar durch jene gesprochen ist, anhand deren Leid (sich) Schuld aufgeladen wurde.

Ich weiß nicht, ob ich das alles wirklich und konkret dachte, während ich Katrin und F aussteigen sah, die Türen des Wagens vorsichtig schließend, als wollten sie keinen Lärm erzeugen, kein Geräusch, dass auf ihre Anwesenheit hätte verweisen oder aufmerksam machen können.

Ich erinnere mich aber, in diesem Augenblick, als ich sie wie geprügelte, beschämte und begossene Pudel den kurzen Kiesweg vom Parkplatz zum Eingang der Klinik beschreiten sah, flankiert von einer Art Spalier der Patienten in Bademänteln, die grau und fahl und rauchend dort herumstanden, die mit leerem Blick auf irgendetwas zu warten schienen - auf Erlösung, den Tod, oder die Visite - dass ich genau in diesem Moment meinte, eine Erkenntnis zu haben: Dass nämlich gelingende Aufarbeitung immer durch nackte Selbstreflexion eingeleitet ist, Hinführung zu einer Ungemütlichkeit bedeutet, und eine Einfühlung impliziert, ein nicht zu vermeidendes, bedrängendes und massiv stressendes EMPFINDEN der eigenen Schuldigkeit. Weil Schuld uns nämlich still werden lässt, ganz still, weil sie uns bedrängt und zur Zurückhaltung nötigt. 

Die Gleichung müsste demnach und in diesem Zusammenhang lauten und meinen: Je lauter, desto Verdrängung...


Ich jedenfalls hing an Schläuchen und Kanülen. Gegen 6h war ich noch in einen flachen, unruhigen Halbschlaf gesunken, aus dem ich dann hochschreckte, in dem Gefühl, zu fallen, ganz tief und bodenlos einfach nur zu fallen, ohne Aufprall. Eher aus Erschöpfung und Entrüstung, denn aus Müdigkeit, dämmerte ich immer wieder weg, bis um 7h45 eine Krankenschwester das Kopfteil meines Bettes in eine senkrechte - und mich in eine sitzende Position beförderte, um etwas zu mir zu nehmen, was in allen deutschen Krankenhäusern, Kliniken und Anstalten als Frühstück bezeichnet wird. Ich war zu sehr aufgewühlt, um zu essen, zu mitgenommen vom eigenen Denken und vom wilden Assoziieren, dem ich mich durch fehlende Ablenkung ( und eventuell auch durch den zwischenzeitlich und temporär vorhandenen Raumgewinn in und an meinem Kopf...?) jeweils ausgeliefert sah. Die Erinnerung an die Ereignisse der Nacht setzte dann unmittelbar wieder ein, reanimiert von den Berichten und von den Reaktionen der Ärzte, deren Aufmerken bei meinem Anblick - die Augenbrauen minimal hochgezogen und ansonsten auf unnatürliche Weise um ein natürliches Verhalten bemüht – die erwähnte Spiegelung auf eine Spitze getrieben hatte…-Konfuzius sagt: Wenn der dich untersuchende Arzt erschrickt, ob deines Anblicks und Befundes, dann sei dir sicher, dass es keine Erkältungszeichen sind, die er sich notieren wird. Es brauchte schließlich diverse Neuroleptika und Psychopharmaka – Haldol, Fluninoc, Risperdal - um mich ruhigzustellen, um eine angemessene Gleichgültigkeit einzuleiten, die mir am Ende eine adäquate Abgestumpftheit zu vermitteln hatte. Ich begann mich alsdann zu entspannen, mehr noch: ich erschlaffte vollständig, ich degenerierte absolut, bis ich mich- hier und unter diesen Leuten- zuhause zu fühlen begann…

Als es dann an die halbgeöffnete Tür klopfte, beschleunigten sich mein Puls und Herzschlag wieder, und ich erinnere noch genau, dass ich mich erfolgreich einem plötzlichen und radikalen Vergessensimpuls hingab. Ich erinnere mich an dieses Vergessen, das wie eine gezielte Amnesie alles ausradierte, was mein Stolz sich notiert hatte und was die Reste meiner Würde noch hatten vorbringen oder anmerken wollen, in Hinsicht auf das nächtliche Geschehen und auf den Vorwurf der Egozentrik, mit der F sich und seine eigenen Belange vorangetrieben und wieder einmal durchgesetzt hatte. Es war alles weg, es hatte keinen Platz, in mir. Ich freute mich nur, ihn zu sehen.

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Autor Florian Giesenhagen

Dipl.-Hygiagoge im Hygiagogik-Zentrum Nordwest

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