GESTERN heute morgen
GESTERN heute morgen
„…es erscheint mir, dass die tiefste ethische Forderung jene der Gegen-Seitigkeit ist, die den Anderen als meinesgleichen und mich selbst als seinesgleichen einsetzt. Der Andere als meines-Gleichen, dies ist das Gelübde der Ethik in Hinblick auf das Verhältnis zwischen Selbstschätzung und Fürsorge…“
(Paul Ricoeur - Hermeneutische Aufsätze, „Annäherungen an die Person“)
Ich habe mich verrannt, schon wieder verirrt und verlaufen, im eigenen Denken und im Anspruch, nur das Erlebnis selbst zu greifen, es auszuwringen und zu Text werden zu lassen.
Zuviel Meinung, Sichtweise, Denken, zu wenig Unmittelbarkeit. Kaum bereinigte Reflexion, eher schon der Blick nach Aussen - aber dort passiert eben auch das, was eindringlich ist, das verarbeitet sein muss, im Texten, im Korrektiv des eigenen Gewahrseins, was der Text eben sagen will, sagen soll, zu sagen haben will und muss, über das je eigene Erleben und über die Reaktionen, auf die Konfrontiertheit.
Vielleicht bin ich überfordert?
Vielleicht sind wir alle einfach nur überfordert…
GESTERN - JUNI 24
EINS
Grevesmühlen, Deutschland, Juni 2024.
Acht junge Menschen attackieren eine Familie, die aus Ghana nach Deutschland kam.
Der Vater wird zugerichtet, im Versuch, seine achtjährige Tochter zu schützen.
Ihr wurde ins Gesicht getreten.
Das ist ein Ereignis, das es nicht in die Hauptnachrichten schafft, über das man eher stolpert, beim Scrollen durch die Schlagzeilen. Es findet sich zwischen einem Bericht über das 2:1 Italiens gegen Albanien, und einer ironischen Aufarbeitung des ZDF-Fernsehgartens, wo Andrea Kiewel
einen kleinen Shitstorm erntet, weil sie über das Urinieren in Gewässern spricht („sieht man das im Fernsehen, wenn ich hier Pipi ins Wasser mache?“) - und wo Matze Knop einen Song zur EM präsentieren darf, gemeinsam mit Olaf, dem Flipper.
Das Lied enthält die eingängigen Zeilen:
„Ein ganzes Land außer Rand und Band!“
Wir sind aufgefordert, mitzusingen.
Vielleicht ist die EM nur ein weiterer Anlass, sich die letzten Hemmungen wegzusaufen. Die Stimmung ist kollektiv und medial schön angeheizt und hochgepitcht, man muss und darf und soll sich einfach nur GEHENLASSEN, wir können mal loslassen, von allem, was sonst noch störend und hinderlich wirkt.
Es ist zu aber vielmehr zu vermeiden, dass wir uns gehenlassen, am und an ANDEREN. Es muss verhindert sein, dass man uns entfesselt, im öffentlichen Raum, weil da über hundert Jahre Aufklärung und Vernunftvermittlung auf dem Spiel stehen, weil die Schonung, die im SOZIALEN richtigerweise und nach allen Seiten verankert ist, nicht loszulassen ist, sondern festzuhalten, zu verteidigen, umzusetzen.
Wir könnten besser die Hemmungen kultivieren, jene, die wir noch haben, die uns zurückhalten, weil die es sind, die unseren Umgang mit-und untereinander regulieren.
Hier aber jetzt eher:
Die durch den Fußball kanalisierte und medialisierte Aufforderung zu einer Art emotionalen Welle, zur Ergriffenheit durch ein Gefühl des WIR, JETZT, HIER…
Letztlich ist es der Aufruf zu einem kollektiven Flow, der da allerseits, und vor allem medial, geleistet wird, zu einer gemeinschaftlichen Empfindung eines Geschehens im Moment.
Ein FLOW - ein REINES (und hier auch:geteiltes) Geschehen -lässt sich aber nicht einfordern, nicht provozieren, nicht von aussen aktivieren - es lässt sich von dort nicht einmal konstatieren.
Es entfaltet sich und selbst, es gelingt, es kommt VON SELBST - und es geht wieder, indem sich dessen gewahr werden wird.
Da macht es auch keinen Sinn, immer wieder 2006, das „Sommermärchen“, heranzuziehen, herbeizuzitieren, im Bemühen, das, was damals einfach und aus sich heraus wachsen wollte, bitte hier und heute zu reproduzieren.
Das, was sich von oben und von aussen ausrufen und anstacheln lässt, ist immer nur ein WIR, dass gegen ein DIE gesetzt und gerichtet ist - etwas, das Josef Goebbels vorgeführt hat.
Der Aufruf muss sich dann auf eine erst konstruierte Opposition beziehen und grundsätzlich gegen etwas Opponierendes richten, muss sich abstoßen an einer kollektiven Identifikation, die sich nur anhand einer vermeintlichen Widersächlichkeit definiert, die alles Gemeinsame, jedes Erkennen von MEINESGLEICHEN, auf gesetzte Differenz und vorgeführte FREMDARTIGKEIT reduziert.
Der Finger, der auf das Fremde zeigt, kann es selbst somit nicht sein, weist in die umgekehrte Richtung.
„Das da sind DIE ANDEREN, deshalb sind das hier WIR…“
Auch wie und wodurch dieses geforderte und ausgerufene WIR definiert ist, wer sich also davon mitreissen lassen DARF, ist nicht absolut bestimmbar, nicht vorzugeben.
Darüber befindet spontan der momentan waltende Zeitgeist, ein kollektives Gespür für Stimmungen und für Zustimmung, die DAS VOLK erteilt, beim Public Viewing, in sozialen Medien, und die dann letztlich das definiert, was schon GEFEIERT werden darf, oder gerade noch geduldet ist:
In Rostock stehen zwanzig Mann auf einer Brücke, freier Oberkörper, addierte 40 Promille - zusammen zwanzig ausgestreckte Arme und flache Hände.
Überall in Deutschland schwingt eine Art Dräuen über den Dingen und Ereignissen, und genau diese Niederfrequenzen sind das, was diese Leute kollektiv VERANLASST, immer das erwähnte Gespür für die Ober-und die Untertöne, für genau jetzt einzuholendes Schulterklopfen, Kopfnicken, Augenzwinkern:
Das gab und gibt es überall, wo Menschen sich versammeln, dass die Deppen und die Trottel, die immer irgendwie mitlaufen und mitreden und abnicken, dass die die Signale zuerst hören, immer im Bemühen um irgendeinen Aufstieg, im Ringen mit den Hierarchien - deren Handeln verweist zuallererst und am deutlichsten auf das Gebot der Stunde, und darauf, was von oben goutiert wird, durch welche Niedertracht von dort Zustimmung einholbar ist, wen man noch unter sich zu identifizieren und zu brandmarken hat.
ZWEI
Europawahl ´24: Wahlsieg CDU, AfD zweitstärkste Partei - Rechtsradikale die stärkste Kraft flächendeckend im Osten.
Wie traurig er ist, dieser nivellierende Mechanismus, der auch und vielleicht besonders deutsch ist, „die da oben“ abzuwatschen, immer die momentan (Regierungs-)Verantwortlichen zurechtstutzen zu wollen - sicher ob einer verständlichen Unzufriedenheit, aus einem Gefühl des Nichtgehörtseins und aus der Erfahrung heraus, übersehen zu werden, nicht ernstgenommen und machtlos zu sein.
Aber eben auch, weil es bequemer ist, weil der unscharfe Blick alles zu übersehen hat, was an restlicher Selbstbestimmung noch zu fokussieren bliebe, was sich fahrlässig überhaupt noch erhellen könnte - im grellen, blendenden Lichtkegel der Partizipation und des gesellschaftlich bedeutsamen Handelns.
Das, was uns vermeintlich verwehrt bleibt, was von aussen verhindert ist, durch das Zutun anderer und durch Verantwortlichkeiten, die wir externalisieren (…“ich würde ja, wenn man mich ließe…“), ist im Grunde immer das, was vermieden sein soll, was wir eigentlich NICHT WOLLEN.
Denke ich, einerseits.
Dann aber, fast schon unmittelbar, bald schon mitgesendet, mitschwingend, als unbedingt auch MITZUDENKENDES, als Einzubeziehendes, als die eigenen Gedanken und Anschauungen wenigstens relativierende Selbst-Einwendung, taucht da noch etwas anderes auf, an den Rändern des Erlebens, eine Art hinreichend mitgefühlter Widerstand, dem eigenen Empfinden skeptisch gegenüberstehend, zweifelnd, hadernd, flatterhaft und nörglerisch, immer alles nach Dissonanzen abtastend…:
Die relative Privilegierung und die Bequemlichkeit des ureigenen Hineingeborenwordenseins, in eine finanziell und existentiell mindestens ja bevorzugte Situiertheit, muss nicht nur einbezogen sein, in Betrachtung und Beurteilung des Handelns anderer - ebendiese Verortung dieses Sichfindens lässt perspektivisch und situativ einzig Raum für eine Verhandlung dessen, was sich aus, in und anhand ebenjener Situierung ergibt, was immer nur dort und von dort sich zeigt und kundtut, was mit diesen Augen sichtbar ist, jemeinig zu erleben und meinhaftig zu erfahren.
Jedenfalls:
Die AfD als späte Rache des Ostens am arroganten, selbstgefälligen Westen?
Eine antidemokratische Partei als Schlagring, den Ostdeutschland sich überstreift, um Deutschland direkt am Sonnengeflecht zu treffen?
Die Kinder der damals plötzlich Annektierten - denen man nicht nur Meinungs-, Reise-und Konsumfreiheit gab, sondern im selben Vorgang auch die gewohnten Strukturen, Gewissheiten und Zuständigkeiten nahm, ebenso wie alle Objekte des Hasses, wie jedes Gefühl für Hierarchie und Ordnung - die sind heute wahlberechtigt, ebenso, wie ihre Eltern noch, und manches ihrer Kinder bereits.
Vielleicht geriet ihnen die Wirklichkeit durcheinander?
Realität als Produkt einer westdeutschen Frontaldidaktik?
Überzeugungen und Sicherheiten, in denen sich jahrzehntelang eingerichtet wurde, entwerteten sich plötzlich selbst, kehrten sich um, waren Anlass für Gelächter.
All die Habituierungen und die generationenübergreifenden Gewohnheiten, die kollektiv und individuell durch den Alltag trugen, die waren nun unbrauchbar, wirkten schräg, kauzig, tölpelhaft.
Aber anstelle einer differenzierenden Aufbauleistung, die alles auf den Einzelfall sich bemühte, zu überprüfen, die diesen Anlass vielleicht sogar nutzte, um auch die eigenen „Errungenschaften“ auf Brauchbarkeit und Sinnhaftigkeit hin zu durchleuchten, die dieses mal nach hier und jenes mal nach dort sortierte und verschob, wurde schlichtweg generalisiert, auf „Gut und Böse“ und auf „Links und Rechts“ verabsolutiert, wurden Fronten noch verhärtet und manifestiert, indem hier genommen und dort weggenommen wurde, indem gönnerhaft in der Breite eigentlich nicht vorhandenes Bargeld verschenkt wurde, mit dem dann Produkte der Schenkenden erworben sein konnten.
Wie beschissen, wertlos und bedürftig kann und muss man sich dann eigentlich vorkommen und fühlen, wenn einem auf perfideste Art die eigene Minderwertigkeit vor Augen geführt wird, immer in Angesicht und unter dem Deckmantel einer „Historizität“ des Ereignisses…?!?
„So, ihr habt euch vierzig Jahre lang kleinhalten, einsperren, den Mund verbieten und für dumm verkaufen lassen, jetzt aber haben wir euch befreit, jetzt dürft ihr teilhaben und teilnehmen, wir helfen und wir sagen euch, was richtig ist und falsch war, wo es hier langgeht und inwiefern eure Existenz, eure Wirklichkeit und eure Lebenswelt totalitär, unmenschlich und lächerlich war…- hier habt ihr 100DM - das ist richtiges, echtes Geld - damit könnt ihr in unseren Kaufhäusern echte Waren erstehen und euch z.B. so einkleiden wie wir, dann fallt ihr nicht so auf…
Ach so - eure Berufe gibt es bei uns nicht, ihr dürft jetzt echte Jobs erlernen und haben, echte Autos fahren, echtes Junkfood fressen, echte Krankheiten haben und endlich auch echte Drogen nehmen, damit ihr das Leben und die Krankheiten hier aushaltet…“
Aus der Überheblichkeit, aus dem trunkenen Taumel deutscher Bräsigkeit und aus der Gier, eine komplette Bevölkerung nicht nur vampirhaft aussaugen zu können, sondern die Unwissenden auch noch unwissend belehren zu dürfen, ihnen die eigene Wirklichkeit, völlig überteuert, als vereinbarte Realität zu VERKAUFEN, aus all dem schält sich eine Art Golem heraus, ein übelriechender, brauner Klumpen inzestuöser Verwahrlosung, der uns den Beleg jahrzehntelanger Nachlässigkeit und den Zinseszins aufgeschobener Verarbeitung auf den schimmligen Tresen knallt.
DREI
Wie konstruktiv, wie schön das wäre, wenn ein demokratisch erteiltes Mandat dazu veranlasste, sich Zeit für Veränderung nehmen zu können und zu DÜRFEN, nicht bereits nach 1-2 Jahren wieder opportunistisch auf Prognosen zu reagieren, dem Boulevard und dem Volk aufs Maul schauen und nach den Stimmungen handeln zu müssen, weil man sonst wieder direkt abgestraft wird.
Ich meine auch, so langsam erst zu verstehen, warum diese HYSTERIE der Debatten so wichtig und unverzichtbar ist. Mir sind meine anfänglichen Vorbehalte - z.B. gegen ME-TOO - schon ein bisschen unangenehm.
Ich hatte das Nervende, diese bald schon hysterische Aufladung eben, den Stress, den das irgendwann erzeugte, einfach nicht richtig einordnen können.
Das alles ist wichtig, ist elementarer Bestandteil der Veränderung, die sich gesellschaftlich eher langsam und behäbig vollzieht, beinahe schleichend, und die darum immer wieder neu entfacht, neu aufgeladen und neu hysterisiert sein muss, durch immer wieder aufzuzeigende Dissonanz, durch wieder zu erzeugenden Stress, der nur nachhaltig und einprägsam sich auswirken kann, wenn er Distanz überbrückt und zu nahe kommt, uns auf die Pelle rückt, wenn das Dringliche auch als bedrängend empfunden wird - wenn all das zu laut, zu schrill, zu aufgepeitscht erscheint, im Moment, im Augenblick, gegenwärtig.
Und aus der bequemen Positionierung des (von z.B. Ausgrenzung) Nichtbetroffenen lässt sich natürlich bestens schimpfen und urteilen, von oben und außen jovial zur allgemeinen Entspanntheit aufrufen…
Je aufgeladener und fordernder, je enervierender und anstrengender die Debattenkultur, desto nachhaltiger kann der Effekt auf all das sein, was sich verändern soll - Rassismen, Faschismen, Machismen, Geschlechter-und Rollenbilder.
Noch in den Nullerjahren konnte man in deutschen Fußballstadien ein vielstimmig gebrülltes „Haut den Neger raus“ hören - ungestraft, beinahe unkommentiert.
Das hört man heute sicher auch noch, vereinzelt, versteckter, aber es ist eben angezweifelt, wird hervorgehoben und aufgezeigt, ist eingeholt von einer alternativen Betrachtungswarte, die sich sukzessive selber installiert hat, von einer irgendwie höheren, moralisch-ethischen Instanz der Wirklichkeitsauffassung, die da besagt:
Das ist falsch, schreiend boshaft und eklig, was ihr da tut, das wird hier geächtet und auch juristisch verfolgt sein, dafür sorgt ein gesellschaftlicher Impetus, den die Hysterie angetrieben hat - und das völlig zu Recht.
Und die Anzahl und die Menge derjengen, die euch dafür applaudieren, wird offensichtlich kleiner - und ebendeshalb lauter…
In vielem Kleinen ist die Welt besser, dadurch, im Großen vielleicht auch, mindestens an den Orten, wo das Privileg besteht, den Umgang miteinander überhaupt verhandeln zu können, regulieren zu dürfen.
Mindestens also in und aus meiner männlich-weißen, nordeuropäischen Perspektivität und privilegierten Betrachterposition.
RICHTIG, MENSCHLICH, GERECHT, sind diese Veränderungen, die feinen Modifikationen wie die größeren Umwälzungen, die sich da am und im Grunde und vom Boden der Gesellschaft aus erhellen und auslegen, langsam, aber beständig, ganz sicher.
Auch und selbst dann, wenn sie naturgemäß die reaktionären Gegentendenzen provozieren, wenn sie Personen wie Weidel und Kreaturen wie Krah - temporär - von tief unten nach viel zu weit oben spülen, und impulshaft wieder Ängste schüren, die Asche überwundener Tradierung anzuheizen trachten, weil der Bruch im Fundament und am Fundamentalen -und das Brechen mit Gewohnheiten- eben beängstigt.
Jedenfalls handelt all das auch von jener Ethik, die das Miteinander, das Füreinander, die Solidarität und das Erleben von MEINESGLEICHEN abzubilden hat - und eigentlich auch meint.
Dipl.-Hygiagoge im Hygiagogik-Zentrum Nordwest
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