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RAUSCHEN

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April 22#1 RAUSCHEN

Ich empfinde eine Scham, die meine Nationalität betrifft.

Zu einer Generation gehörend, in der dies vielleicht nicht etabliert war, aber durchaus vorkommend, kann ich mich gut erinnern, wie häufig ich mich als Österreicher oder Schweizer ausgab, wenn wir per Anhalter unterwegs waren, durch Europa. Das ist lange her, ebenso das Schamgefühl. 

Jetzt taucht es wieder auf.


Zu den Ablenkungsmanövern und Empörungsmoralismen, die 

mittlerweile von deutschen Politikern angewandt werden, hat sich Samira El Ouassil perfekt geäußert ( „Überflüssige Kapriolen“, 15.4.22 ), das kann man nicht besser formulieren, denken und zusammenbringen, unbedingt lesen!

Auch die von ihr zitierte Arbeit von Agnes Callard über die „sokratische Höflichkeit“ hilft dabei, das alles einzuordnen und auch irgendwie zu verstehen ( „Persuade or be persuaded“, 2019 ).


Mich hat aber ein Detail in der Berichterstattung der letzten Tage immer wieder beschäftigt: 

Olaf Scholz sieht sich „irritiert“ - von der angeblichen Ausladung Steinmeiers. 

Damit kann man arbeiten, darauf lässt sich aufbauen:


„Irritation ist eine noch undefinierte Überraschung im Bereich von Beziehungen(…), ein von einem System wahrgenommenes, aber informationell noch nicht verarbeitetes Rauschen seiner Umwelt“ ( Luhmann )


Irritation versetzt das System in eine Situation, in der es ENTSCHEIDEN muss, ob es Veränderungen vornehmen sollte, oder nicht.

Sie regt also zur weiteren Durchführung der Autopoiesis ( Selbstgestaltung-oder erhaltung ) an, lässt aber offen, ob systemeigene Bestandteile modifiziert werden müssen.


Das o.e. Rauschen gewinnt erst durch strukturelle Kopplung an Bedeutung. Diesen Kopplungsbeziehungen geht die Irritation aber stets vorraus. Ohne Irritation keine Kopplung von Systemen, keine Aufforderung, kein Impuls dazu.

Und ohne Kopplungsbeziehung kein bedeutsames Rauschen, ohne Beziehung einzig: Rauschen.


Die Ausladung Steinmeiers, der Ton Melnyks demnach:

Eine Art irritierender, sokratischer Höflichkeit, um taube, stumpfe oder schlafende Systeme zu struktureller Kopplung aufzufordern, oder diesen eben Kopplungsbeziehung aufzudrängen, als Wahrung persönlicher oder eben politischer Integrität, indem durch „unhöfliche“ Störung des gewohnten Denkens ( dem Denkenden ) Respekt entgegengebracht wird ( siehe El Ouassil ).

Der „Affront“ als Form von geistiger Integrität, die somit gewahrt werden oder bleiben kann.

An bestimmten Punkten heisst es also nicht mehr, du hast deine Meinung, ich habe meine, sondern eher schon: überzeugen oder überzeugt werden ( siehe Agnes Callard ).


Da sich Sinn infolge von Selbstreferentialität psychischer und sozialer Systeme nicht von außen steuern lässt, ist SINNIRRITATION der verbleibende Weg für (autonome) Systemveränderungen. Die Orientierung an der Verfügbarkeit von Handlungsoptionen scheint das aussichtsreichste Irritationspotential zu besitzen, da so die nicht deckungsgleichen Beobachtungsperspektiven deutlich werden.“ ( frei nach Wilke, 2004 )


Was heisst das denn, in diesem Fall, denke ich? Was macht der Selenskij denn da, der alte Systemtheoretiker? 

Zeigt dem phlegmatischen Scholz aus einer maximal bedrohten Position Handlungsoptionen auf, indem er durch eine sokratisch (un-)höfliche Intervention - oder eben per Affront - ihm Verfügungserweiterungen darlegt, ihm veranschaulicht, dass die Beobachtungsperspektiven sich aktuell nicht decken?  Beschafft ihm von außen Sinnirritation und ermöglicht damit Systemveränderung? 

Ja, möglich. In unserem Handeln liegt wahrscheinlich viel mehr an Intentionalität, als wir selber überblicken oder, selbst nachträglich, hineinzudeuten imstande sind.


Die Bedeutung von IRRITATION kann auf unterschiedlichen Ebenen noch einmal differenziert sein.  

Bei der INTERAKTION geht es um selbstreferentielle Problembearbeitung, bestenfalls durch rekonstruierende Verfahren, die allerdings auf Freiwilligkeit, Eigeninteresse und Eigenverantwortlichkeit angewiesen sind. 

Heisst auch: Es muss eine Art Zustimmung erteilt werden, es muss ein „Lerninteresse“ vorhanden sein und es muss letztlich dazu gestanden werden ( Klienten stimmen der strategischen Praxis häufig zu, scheuen sich dann aber teilweise, auch dazu zu stehen und im Handeln eigenverantwortlich Veränderung auch umzusetzen oder zu vollziehen ).


Bei ORGANISATIONEN - und um Solche handelt es sich ja, im Falle von Parlamenten oder parlamentarischen Demokratien -steht Entscheidungshandeln im Mittelpunkt systemischer Praxis und ist sogar der „spezifische Operationsmodus“ von Organisationen. Dies ist aber nach von Foerster/Luhmann auf die Beobachtung von Beobachtung ( siehe Blog „ZWEITE ORDNUNG“ ) angewiesen. 

Informationsauswahl-und verarbeitung, sowie vor allem auch VERSTEHEN erfordern also die Reflexion der eigenen Beobachtungen und darin gegebener blinder Flecken

(  METAKOMMUNiKATION: z.B. zirkulärer Dialog in der Kommunikologie, phänomenographische Interviews und metakognitive Bildungsarbeit in der multimodalen Konzeption der HYGIAGOGIK  ).


Zum Entscheidungshandeln:

Ein „Entscheidungsproblem“ ( siehe Scholz ) wird zu einem Problem der Kontextsteuerung, einfach deshalb, weil direkte Steuerung von Organisationen nicht möglich ist und damit wiederum nur die IRRITATION der Kontexte bleibt ( um Entscheidungsprobleme aufzudecken und anzugehen…).

Was die Ukraine oder deren Protagonisten tun, ist demnach für Organisationen existentiell und systemrelevant: 

Sie irritiert Kontexte, um Verstehen und Entscheidungshandeln zu ermöglichen.

Unsere Reaktionen darauf sind der eigentliche „Affront“: 

Im fortlaufenden Akt von Pikiertheit, beleidigter Negierung und empörter Echauffierung degradieren wir die Organisation Parlament auf eine nicht lernfähige Institution, deren Komponenten, Bestandteile oder Mitglieder den Reifegrad von ca. Vierjährigen aufweisen ( ein dickes Sorry an manche Vierjährige…)


Das Problem wäre dann also eher, dass die von Scholz  beobachtete und beschriebene Irritation, zwar aus dem Rauschen identifiziert wird, jedoch in stumpfester Borniertheit und im Festhalten an Gewohntem - v.a. von Rolf Mützenich - einfach zurückgewiesen wird. Das Mittel der erwähnten Empörungsmoralismen, das uns Deutschen vordergründig vertraut erscheint, wird herangezogen, um Kritik und Möglichkeiten von Verfügungserweiterung und Handlungsoptionen zu ignorieren. Potentielles Verstehen wird  verweigert, Aufschlusserweiterung umfahren und vorhandene blinde Flecken übersehen. Dadurch werden notwendige Prozesse der Autopoiesis, der Selbstgestaltung, der Entwicklung gar, negiert, es wird - so wird es sichtbar - ENTSCHEIDUNGSHANDELN vermieden, sowie, zu allem Überfluss und keineswegs zuletzt, dem Hilfsbedürftigen IRRITATOR die benötigte Hilfe nicht erteilt, geradezu entsagt, weil man ja vordergründig und hauptamtlich mit der Einhaltung von Etikette und dem Bestehen und Insistieren auf Gepflogenheit beschäftigt ist, weil die eigene Brüskierung soviel Zeit und Raum in Anspruch nimmt ( siehe dazu auch zum Thema „Hakenschlagen“, aus dem letzten Blog ). 


Scholz hat also, Stand heute, das Rauschen noch nicht informationell spezifiziert, das Problem noch nicht selbstreferentiell bearbeitet.

Er beschreibt seine Beobachtung, beobachtet und reflektiert diese jedoch nicht ausreichend.


Irritation bedeutet Zweifel, bedeutet hinterfragen können, bedeutet letztlich vor die Wahl gestellt sein.

Sich irritiert sehen heisst demnach: DIE WAHL HABEN:

Verändern, also lernen, oder dem Irrtum unterliegen, man könne trotz erfolgter und registrierter Irritation zurückkehren zur geräuschlosen Alltagsgewohnheit und auf Erweiterungen verzichten.

Würde dann bedeuten: Bislang noch Ungesehenes, blinde Flecken also, übersehen zu wollen, indem die Perspektive NICHT gewechselt wird, der eigene Standpunkt nicht verlassen wird. Sich also gegen SEHEN und für Blindheit entscheiden, und letztlich also so tun, als würde das bereits registrierte Rauschen keine Irritation erzeugen bzw. erzeugt haben.


Es wird sich zeigen, ob die Organisation Parlament ins Handeln kommt, ob die wahrgenommene und beschriebene Irritation seines befugtesten Elements ein Entscheidungshandeln ermöglichen kann.

Andernfalls bleibt: 

Rauschen, hier.

Massaker, Mittelalter, Finsternis. 

Dort.




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Autor Florian Giesenhagen

Dipl.-Hygiagoge im Hygiagogik-Zentrum Nordwest

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