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JULI 18/2 Wesermärscher Romantik

Wir befinden uns im Jahre 2038 n.Chr. Ganz Deutschland wird von Hygiagogen behandelt. Ganz Deutschland? Nein! Ein von unbeugsamen Wesen bevölkertes Dorf hört nicht auf, dem Nicht-Paradigmatischen Widerstand zu leisten...

Der Ort X in der Wesermarsch, 2018. Frau Y geht es nicht gut. Um es treffender zu formulieren: Ihr geht es ÜBERHAUPT NICHT GUT! Und um es dann abschließend doch noch in aller Deutlichkeit zu sagen: Ihr geht es "richtig scheisse". Sehr lange schon, eigentlich immer schon, kann sie sich gar nicht "drauf besinnen" oder dran erinnern, wann es ihr mal anders ging, im Sinne von gut, im Sinne von erträglich, im Sinne von nicht scheisse.

Was nun, was tun? Die langjährige Erfahrung in Umgang mit und im Zugang zu Frau Y hat gezeigt, dass Hilfsangebote nicht ratsam bis nicht erwünscht sind. Eine etwaig über tiefenstrukturierte Interviews herbeizuführende, weil ja von Seiten des Anwenders auch irgendwie und immer noch intendierte, beabsichtigte oder angestrebte Änderung ihrer Befindlichkeit, angeregt oder ausgelöst durch etwas, was der Scheisse etwas hinzufügte, entgegenstellte oder auch nur entgegenzustellen haben könnte oder hätte haben können - was weiß denn ich, Empfindungstraining, Somatosensorik, Sensomotorik, Erkenntnispipapo, Umdenken Umfühlen Umempfinden, Wechsel der Perspektive, Selbstdistanz, höhere Grade der eigenen Reflexion, anderes Abstraktionsniveau des erstaunlich nicht-abstrakten "scheisse", welches der eigenen Befindlichkeit zugeordnet wird - alles schon versucht, und abgeprallt an der zementierten Mauer der vollumfänglichen Rigidität. "Es geht mir scheisse, aber etwas besser." "Es geht aufwärts, aber immer noch scheisse." Jedwede Nuancierung des Befindens fand bislang ausschließlich innerhalb der unumstößlichen Grenzen des Urzustandes "scheisse" statt. Variationen von scheisse. Sozusagen. Dann der Versuch über Bande, um ein paar Ecken denkend und argumentierend, vorsichtig ein paar Anstöße streuen, schon der Weg in Bereiche der nur noch bedingten Reflexhaftigkeit eine Überforderung, die Fragwürdigkeit in weiter Ferne, das Bewusstsein ein prä-archaisches, um eventuell mal Zellteilung zu betreiben, also: loben loben loben, aus allen Rohren Lob feuern, in Grund und Boden loben und vielleicht auch mal ganz dezent tadeln, nicht so auffällig, denn die Klientin schlägt Haken wie eine ivorische Gazelle. Aber nur hinsichtlich der Vermeidung von Befindlichkeitsverbesserung, in diesem Segment entwickelt sie strategisch die Wendigkeit einer heranwachsenden Steppenantilope, auf der Flucht vor einem hygiagogischen Gewohnheitsraub-Tier, dem instinktiv das Kratzen an den einzig verlässlichen und feststehenden Komponenten ( "mir geht es scheisse" ) des ihr zugemuteten Daseins unterstellt wird, und das natürlich völlig zu Recht. Der aus dem Zusammenhang entstehende und aus Verzweiflung entgegnete Hinweis darauf, ihr Mann scheine sie ja "über alles zu lieben", wird mit einer nicht für möglich gehaltenen, emotional überfrachtet bis verklärt anmutenden Steigerung der Romantik beantwortet (und reaktiv niedergeschmettert): "Ich komm auch ganz gut mit ihm zurecht."

Ich stelle erstmalig die der Hygiagogik eigenseiende Handlungsfähigkeit in allen Lagen und Situationen in Frage. Bislang immer noch den einen oder anderen Strategiewechsel aus dem Köcher ziehen könnend, greift mein flehender Arm auf der Suche nach Zugang, nach sich eignendem Modus Operandi, nach Worten und nach Sprache, in deren Schnittmenge irgendeine Form von Verständigung uns meinetwegen auch nur widerfahren könnte, ins Leere. Dann doch wieder taktile Ansprache? Dringt da nichts durch, was verbal zu formulieren ist? Wann hat sie mir die Compliance entzogen, bzw. wie komme ich zu der Annahme, sie hätte sie mir jemals erteilt gehabt? Versuche mich zu beruhigen, Klientin zahlt schließlich für die Behandlung, mehr als zweimal Lotto spielen kostete, könnte von dem Geld drei Mal zur Nagelpflege, ein halbes Mal zur Entsäuerung oder zehn Minuten zur Heilpraktikerin für Psychotherapie, die muss ja irgendetwas wollen von mir! Aber so einfach ist das nicht, so leicht lässt sich ein entwaffneter David nicht zur Gelassenheit führen, wenn ihm Goliath bereits die Steinschleuder entrissen, sie in einem Stück verschlungen und halbverdaut hervorgewürgt hat. Aus substantieller Ratlosigkeit und mich bedrängenden altruistischen Tendenzen, vergehe ich mich an Frankl, interveniere paradox ( "wäre es nicht wunderbar, wenn es eine Steigerung von scheisse gäbe?" ), rege paradoxe Intentionen an  ( "sie sollten sich vornehmen, bis zum nächsten Morgen fünfmal gekotzt zu haben!" ) und schildere den imaginierten Fall einer entfernt Bekannten, um über ein entsprechend desolates Relat etwas zu erzeugen, was eine Form von Demut der eigenen Scheisse gegenüber zu erzeugen im Stande sein könnte ( "da war die Frau Z, Verdacht auf Analprolaps, Not-OP und in Folge künstlicher Darmausgang - dabei hatte sie einfach nur vier Wochen nicht gekackt - aus Faulheit!" ), aber alles scheint vergebens, denn Frau Y fühlt sich...scheisse.

Am Abend recherchiere ich bei den ganz Großen, Faulstich, Bankhofer, Hirschhausen, und werde tatsächlich fündig.

"Menschen funktionieren nicht wie extern kontrollierte Systeme, sondern verfügen über gerahmte Spielräume, die man als bedingte Freiheit bezeichnen kann." ( Faulstich über Wittpoth, "Menschliches Lernen" )

"Essen sie mehr Gemüse!" ( Hademar Bankhofer, "Gemüse ist mein Gemüse" )

"Wunder wirken Wunder!" ( Dr. Eckhardt von Hirschhausen, "Toskanische Elegien" )

Wenn der gesamte Y`sche Organismus also dann tatsächlich kein extern kontrollier-bzw. auch nur veränderbares System darstellt, wenn sie zwar eine Freiheit hat, aber eben eine bedingte innerhalb eines - bzw. ihres- gerahmten Spielraums, vielleicht ist die Nuancierung ihres Zustandes und die feinen Variablen auf der Scheisse-Skala ja dann als Erfolg zu werten. Nach der dritten Apoplex-Anwendung ist die Zunge dann auch kaum noch schief, weswegen ich folgendes veranlasse: "Frau Y, essen sie mehr Gemüse und lesen sie den neuen Ratgeber von Dr. von Hirschhausen." Darauf können wir uns einigen.

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Autor Florian Giesenhagen

Dipl.-Hygiagoge im Hygiagogik-Zentrum Nordwest

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