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vom ende des gewahrseins (1)

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SEPTEMBER 18/1 # vom ende des gewahrseins (1)

18h, Norddeutschland, Nieselregen. Ein Mann mit einem Kinderwagen und einem Kleinkind in Selbigem, an einer Haltestelle wartend. Ein Bus fährt vor, hält in etwa drei Metern Abstand zum Bordstein. Im Inneren in etwa zwanzig Insassen, davon fünfzehn - wie üblich - mit gesenktem Blick in den Bildschirm eines Smartphones versunken, das Blickfeld also ca dreißig cm ausgedehnt vor dem Körper, die Augen wandern einen cm nach links, rechts, oben und unten, und verlassen diesen Rahmen nicht. Der Bewegungsradius umfasst die benötigten Wischbewegungen einer Hand, die akustische Wahrnehmung beginnt und endet an den Ein-und Ausgängen zweier Ohrstöpsel. Ab und zu wird eine Hand gehoben, um mit einem Finger die Tastatur des Bildschirms zu bedienen. Es ist still. Wir befinden uns im Inneren eines U-Bootes, gemeinsam versunken in unser Innenleben, in die optisch-akustischen Reize, die die Prothetik der Geräte liefert, als unmittelbare Verlängerung unseres Körpers, als Fortsatz, der unsere Aktionen und Interaktionen zusammenfasst, ersetzt, vorgibt.

Der Mann sieht sich dem Problem ausgesetzt, die Distanz zu überwinden, die aus dem Abstand des Vehikels zum Bordstein sich ergibt, der Buggy lässt sich nicht in das Fahrzeuginnere befördern. Es vergehen ungelogene, konkrete und nicht nur gefühlte dreißig Sekunden, in denen einige unbeholfene Versuche unternommen werden, dieses Problem zu lösen, ohne die Hilfe der anderen, körperlich Anwesenden in Anspruch zu nehmen. Es ist still. Nur das Kind wird unruhig, der Mann ebenso. Am Ende dieser Zeitspanne, innerhalb derer der Mann unbeholfen bleibt, greift er unter den Kinderwagen und wuchtet ihn mitsamt dem mittlerweile sich schreiend beschwerenden Kind in den Bus. Trotzdem ist und bleibt es still. Die Blicke der Mitreisenden bleiben auf den Bildschirm geheftet, mit Ausnahme zweier Damen, Mitte Vierzig, die nebeneinander, direkt am Einstieg sitzen - die schauen diesem Vorgang zu, und man kann nicht wirklich sagen, dass sie desinteressiert sind, dass sie sich willentlich gegen etwaige Formen der Hilfestellung entscheiden, nein, es ist schlimmer, erschreckender: Sie schauen zu, aber sie scheinen (es) nicht zu sehen. Der Blick ist entweder nach innen gerichtet, oder aber er endet dreißig cm vor dem eigenen Körper, kann sich nicht weiter ausdehnen, weil das, was da stattfindet, außen, draußen, nicht wirklich betrifft, die Frauen nicht betrifft, weil das Außengeschehen nicht imstande ist, dem Innen eine Betroffenheit anzubieten, oder umgekehrt, das Innen ist nicht darauf programmiert, mit dem Außen sich zu analogisieren, es prallt eher schon ab, es findet eben außerhalb der eigenen, leiblichen Ausdehnung statt. Der Mann mit dem Kinderwagen, der ja wohl ich bin, soviel scheint immer noch festzustehen, dessen bin ich mir sicher, trotz des Schreckens, der mir die leibliche Dynamik gerade zerreißt, eher schon in Fetzen reißt, dieser Mann also taumelt durch das Wageninnere in Richtung Busfahrer, den Buggy vor sich herschiebend, wie einen Rollator-ähnlichen Behelf, um das innere und äußere Gleichgewicht nicht zu verlieren. "Einmal Kreyenzentrum bitte!" Den Wagen bereits wieder über die Straße lenkend, nimmt der Fahrer das Geld entgegen und händigt mir eine Fahrkarte aus. Als wir Platz genommen haben, ist es wieder und weiterhin vollkommen still. Es hat sich ja auch weder etwas zugetragen, noch etwas verändert. Es ist ja absolut NICHTS vorgefallen, was die Insassen auch nur an den Rande einer Interaktion hätte drängen können.

Was passiert da, mit uns? Wenn vor zwanzig Jahren noch, als der Fernseher das Hauptmedium darstellte, dessen wir unsere Zeit widmeten, die leibliche Ausdehnung etwa fünf Meter betrug, da das Gerät in etwa dieser Entfernung von uns platziert war, so hat sich unser habituiertes Gewahrsein mal eben auf maximal 30 cm verkürzt, weiter reicht unser Wahrnehmungsfeld nicht mehr, da die Gewohnheit es gar nicht vorsieht, sich etwas zu vergegenwärtigen, das sich außerhalb dieser Entfernung zuträgt oder ereignet. Weil all das, was sich in drei Dimensionen, sozusagen analog, nicht-digital und nicht-virtuell, im Außen darstellt, keine Betroffenheit zu erzeugen imstande ist. Das überfordert uns, das hat seinen Platz schon verloren, in den Bereichen, die für unsere sozialen Interaktionen zuständig sind, und ich meine dies nicht kulturpessimistisch ( "früher war mehr Lametta" ), verschwörungstheoretisch ( "das wollen die ja nur erreichen, das wir nur noch konsumieren") oder pseudonostalgisch-ökofaschistisch ( "die bösen Sendetürme…" etc ), sondern ganz konkret organismisch, im Sinne einer leib-evolutionären Veränderung, die tatsächlich dazu führen wird, dass wir die Fähigkeiten einbüßen, die die soziale Praxis eigentlich einfordert - Gewahrsein, Gegenwartsempfindung, Innen/Außen-Analogien, Empathie und unmittelbares, affektives BETROFFENSEIN. Wenn uns der Andere nicht mehr betrifft, weil dessen dynamische Ausdehnung unsere Grenzen weder erreicht, noch diese zu durchdringen vermag, bis in die Bereiche unserer eigenen Leiblichkeit, dann ist es irgendwann keine Frage mehr von Erziehung, Ethik oder Menschenbild, wie oder ob wir uns überhaupt verhalten, dem oder den anderen gegenüber, sondern wir verlieren die konkrete Befähigung dazu, überhaupt in Kontakt zu sein.

Fortsetzung folgt.

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Autor Florian Giesenhagen

Dipl.-Hygiagoge im Hygiagogik-Zentrum Nordwest

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