Die Renaissance der moralischen Denunzierung
Oktober 20#1 Die Renaissance der moralischen Denunzierung
Interview in der NFZ
mit dem ehemaligen Starfrisör Ulf Ulfsen vom 15.03.2045
zum 25.Jahrestag der postcoronären Zeitenwende
"Wir erleben gerade die Renaissance des deutschen Denunziantentums. Dies hatte ja tatsächlich, aus fehlendem, vorgegebenem Anlass, für die Dauer von zwei Dekaden zu ruhen, zumindest gesellschaftlich, im Einzelfall natürlich immer wieder kurz auflebend.
Mindestens und überliefert seit den späten zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts, war dies Kernkompetenz und kulturelles Kapital des deutschen Bürgertums.
Im dritten Reich und der DDR noch diktatorisch gefordert, seit 1990 eher erwünscht und im Zusammenhang mit Stasivergangenheiten möglich, ist es seit 2020 endlich wiederbelebt: der deutsche Bürger darf in pandemischen Zeiten wieder verpetzen und denunzieren, überwachen und belauschen, sich wichtigtun und seinen Beitrag zur Verfolgung rechtlicher oder moralischer Verfehlungen leisten"("NFZ" vom 13.3.2021 )
NFZ: Herr Ulfsen, dieses Zitat stammt aus dem Jahre 2021, wir schreiben das Jahr 1 nach Ausbruch der Pandemie und Sie leiten damit ihre gesellschaftliche und berufliche Exekution ein, wie Sie vor kurzem, rückblickend, konstatierten"
U.U.: Damals begann man, die Gefahr und die Ungewissheit dieser völlig neuen und nicht einzuschätzenden Situation, von oben nach unten, für das Kollektiv, umzudeuten.
Man appellierte - aus begründetem Anlass und in guter Absicht- an primitive und egozentristische Affekte, schürte die nur langsam entstehenden Ängste und konstruierte rein pathogenetische Verhaltenskoordinaten, die sich vollumfänglich an Vermeidung, Gefahr und Risikoabwägung orientierten: "zieht euch zurück", "haltet Abstand", "bleibt zuhause und innerhalb der Kernfamilie", "lasst euch gegen Grippe impfen", "geht nicht feiern und nicht tanzen", "es ist nicht die Zeit für Reisen, "schaut auf eure Nachbarn"...
Wobei dann aus dem "nach dem Nachbarn schauen" schnell ein Überwachen und Denunzieren aller, die sich anders verhielten oder Vorgaben auch nur hinterfragten, wurde. Eine Wiederbelebung von alten Ordnungen, von maximaler Unsicherheitsvermeidung und von polarisierenden Wertesystemen war dann die Folge: "wer nicht mit uns ist ist gegen uns, wer selber denkt glaubt an Verschwörungen, wer Fragen stellt der stellt infrage" etc.
NFZ: ..es gab aber damals durchaus verschwörungstheoretische Tendenzen, die den konstruktiven Umgang mit der Pandemie bedrohten"
U.U.: Das sind verstehbare Reaktionen auf Angst, Ungewissheit und Überforderung, aber davon spreche ich nicht. Es muss unabhängig der Bedrohungsszenarien jederzeit gewährleistet bleiben, dass differenziertes Denken möglich und Dialektik herstellbar ist.
Es ist schon erstaunlich, wie zielsicher damals jedwedes dialektisches Potential negiert wurde. Wir haben praktisch teilnehmend beobachtet, wie wir uns Thesen als Synthesen verkauften - und damit meine ich nicht den Virus und die Pandemie.
Schon recht früh, im Sommer 2020, entwickelten sich tendenziöse,öffentliche Debatten, eine Streitkultur, die weniger auf Verständigung und Argumentation ausgerichtet war, sondern sich der sozialen Medien als Empörungsmaschinerie bedienten. Es wurden zügig zwei opponierende Lager installiert, für deren Zuordnung absolute und archaische Bekennungsmechanismen griffen:
Die "richtige" Seite beanspruchte für sich eine moralisch geprägte und zweifelsbefreite Deutungshoheit auf allen Ebenen und beantwortete Abweichung mit Ausschluss, Segregation undöffentlichem Verruf - jedes Zögern, hinsichtlich der Befolgung und der absoluten Akzeptanz von Richtlinie, Vorgabe und bereitgestellter Wirklichkeit, wurde abgestempelt und mit dem Kainsmal der "Verschwörungstheorie" versehen.
Diese so erzeugte Angst, vor Exklusion und vor moralischer Maßregelung, vor Diffamierung und Bloßstellung, die damit verbundene Vermeidung von Abweichung und von eigenem Denken, bietet jederzeit einen fruchtbaren Nährboden für die Aufzucht von lemminghaften Konformisten, deren Knechtschaft ja nicht mit der Bedrohung endet - ist die Konstitution erst einmal derart zusammengefaltet, fällt eine stabile Aufrichtung mit durchgestrecktem Rückgrat enorm schwer"
NFZ: "Sie sprachen, damals wie heute, von "tendenziösen Debatten" und einer "Empörungsmaschinerie" - können Sie Beispiele oder Belege für diese Auffassung nennen?"
U.U.: "Nicht links ist rechts und rechts ist Nazi, der eine hat "Zigeuner" gesagt, ein anderer eine Frau an der Schulter berührt, in der Ferienwohnung nebenan befinden sich Risikogebietler, das Mädel gegenüber war nach der Sperrstunde zuhause, ein Prominenter ist unzurechnungsfähig, weil er bei RTL kündigt, eine Sängerin disqualifiziert sich, weil Sie einem anderen Sänger, der mit dem Unzurechnungsfähigen konspiriert hat, ein Smiley gesendet hat, das Ordnungsamt patroulliert auf Campingplätzen, die Polizei geht jedem Hinweis nach, me too, me too, me also too"" Reicht das?
Die gesellschaftliche Ächtung der Denunzierten und Verrufenen, dieses Anrühren einer nur scheinbar homogenen Brühe aus allem, was dem "richtigen" Lager nicht schmeckte oder ungenießbar erschien - Verschwörungstheoretiker, Corona-Leugner, rassistisch, antisemitisch, homophob, frauenfeindlich - ersetzte auf wundersame und sich selbst vollziehende Weise jeden anderen, bis dahin bestehenden Hebel der Druckausübung und der Angsterzeugung, der Drohung und der Selbstregulierung gegenüber einer bereits im Kern völlig desorientierten, rückgratlosen und opportunistischen Gesellschaft, die somit und hiermit nun eine tonnenschwere und messerscharfe Moralkeule über sich installierte, die dort bis heute damokleshaft pendelt und jede Form von Diversität reguliert, differenziertes Denken entweder verhindert oder infamisiert und denen mit Ausschluss und Sippenhaft, mit Rufmord und Verruf droht, die es wagen, Antithesen zu formulieren, die sich außerhalb der definitorisch installierten Rahmung aus angesäuertem Moralin, altbackener PC und Überlegenheits-Modernität bewegen. Einer Dreifaltigkeit, die hinter vorgehaltenen Händen neue Fundamentalismen und alte, faschistoide Metastasierungen in die Zellstrukturen der gesellschaftlichen Körperschaften trieb.
Wer Fehler machte, der war raus, und wer raus war, der kam nicht wieder rein. Einmal verrufen sein bedeutete nicht mehr gehört werden. Ich weiß, wovon ich spreche.
NFZ: "Ihr recht freizügiger Umgang mit Begriffen wie z.B. "Faschismus", hatte damals bereits dazu geführt, dass sich Debatten um Ihre Person erhitzten, zulasten einer inhaltlichen Auseinandersetzung. Sie setzen dies nun scheinbar unbelehrt fort - tun Sie sich damit einen Gefallen?"
U.U.: "Ich wurde und werde ungern belehrt. Die als Frage verkleidete Drohung, ob ich mir damit einen Gefallen tue, trägt ihr Übriges dazu bei. Man mag mir Renitenz vorwerfen - ich persönlich finde es wichtig, die eigenen Intentionen geklärt zu haben, das schützt vor beidseitigen Anbiederungen und vor falschen Freunden.
Wir sind in Deutschland viel zu lange dem Irrtum aufgesessen, dass Faschismen stets parolenhaft und gröhlerisch daherkommen, der ewige Blick nach links- und rechtsaussen musste ja irgendwann eine Halsstarrigkeit erzeugen.
Ich kann mir keinen reineren Fundamentalismus vorstellen, als den, der sich selbst moralisch definiert und erhöht, und jede Abweichung von dieser Definition als unmoralisch degradiert.
Wie ein befreundeter Kollege zu sagen pflegte:
"Faschismus und Antifaschismus haben eines gemein: den Faschismus."
NFZ: Zurück zu der "gesellschaftlichen Ächtung" und der "angerührten Brühe" - wollen Sie damit sagen, dass Rassismen, Antisemitismus oder das Begrapschen von Frauen etwas anderes verdienen ? Was ist falsch an PC? Sind sexuelle Belästigungen oder Schwulenfeindlichkeit legitim?
U.U:: Nein. Waren nicht, sind nicht, werden nicht sein.
Für das Protokoll: Ulfsen hat "Nein" geantwortet.
Wenn ich z.B. die Politik des Staates Israel kritisiere, dann muss ich es vermögen, dies ohne antisemitische Stereotypen oder jüdische Ressentiments zu tun. Das Gleiche trifft auf Ihre Fragestellung zu. Diese Art von den eigenen Standpunkt zementierender, selbstbestätigender Interpretation und von echauffierungsgeladener Simplifizierung meiner Aussagen, dieser Hang und Drang zur Klassifizierung und zur Schublade, von moralischer Deutungshoheit, das ist eben auch ein Symptom dessen, was 2020 vielleicht nicht gerade begonnen hatte, was aber durch die Arten und die Weisen, wie mit den individuellen Ängsten und der kollektiven, gesellschaftlichen Bedrohung, mit der plötzlich einbrechenden Veranlassung, mit Habitaten zu brechen, mit Gewohnheiten des Handelns, Denkens und Umgehens mit sich und miteinander - bis in die etabliertesten Formen der Körperlichkeit - umgegangen wurde, Anlass und Beschleunigung fand.
Es wurden damals Schlussfolgerungen und Entscheidungen getroffen, die wir verantworten mussten und immer noch müssen, auf gesetzgebender, auf rechtsprechender und natürlich auch auf exekutiver Ebene, übergeordnet, politisch, gesellschaftlich und privat. Entscheidungen, die wir für uns, als mündige Bürger, hinnehmen mussten oder selber treffen zu hatten, ob wir das wollten oder nicht: wie umgehen mit dem Konfrontiertsein, der unmittelbaren Betroffenheit, die einige von uns ja damals in dieser Konsequenz erstmalig ereilte?
Das ging uns ja direkt und tatsächlich an, wir hatten uns zu bekennen, da gab es keine eskapistischen Nischen oder regionale Fluchten, wir wurden mit unserer existentiellen Freiheit und Verantwortlichkeit konfrontiert, mit unserer natürlichen Bezogenheit und unserer Mit-menschlichkeit, sozusagen.
Da entfielen unversehens alle Ausreden, Gleichgültigkeit war nicht länger eine Option und Entscheidungsvertagung nicht mehr möglich.
Wir mussten uns dazu VERHALTEN, und das haben wir getan, auch und zuvorderst insofern, wenn wir die Absicht verfolgten, dies zu umgehen, zu unterlassen oder zu vermeiden. Enthaltung ausgeschlossen, aus Sicht der Mehrheit eine Premiere. Das war natürlich eine massive Anforderung, die sich im Rückblick als Überforderung zu erkennen gibt.
NFZ: Sie meinen also, die Enthaltungsoptionen und die Nichtverantwortlichkeit wurden plötzlich vermisst?
Ist das nicht ein etwas zynischer Blick, vielleicht auch aus exklusiver bis exkludierter Position, auf eine Gesellschaft, die zu jedem Zeitpunkt und nach bestem Gewissen versucht hat, zu urteilen, zu handeln, sich selbst und überhaupt alle zu schützen? Oder anders:
Endet die erwähnte Freiheit nicht dort, wo man sich gezwungen sieht, Entscheidungen hinzunehmen und wo man sich mit etwas konfrontiert sieht, dass man nicht selber zu verantworten hat?
U.U.: Wir hatten und wir haben ja immer eine Wahl.
Selbst dort, wo im Extremfall dann Grundrechte gegeneinander abgewogen werden mussten, wo Verhältnismäßigkeiten zu bedenken waren, dort, wo wir uns ganz plötzlich und unvorbereitet dazu aufgefordert und gezwungen sahen, etwas zu verändern, einzugreifen in alte und lange bestehende Ordnungen und sogar in Wirklichkeiten, in die wir uns komfortabel eingerichtet und in denen wir es uns bequem gemacht hatten. Zuletzt auch in Realitäten, die wir neu vereinbaren mussten.
All das haben wir getan, ob vorsätzlich oder fahrlässig, bewusst oder im Affekt.
Es bleibt ja nichts jemals folgenlos, das war ja lange eine Illusion, die wir liebgewonnen hatten, dass wir irgendwie auch immer außer Konkurrenz am Start sind, dass unsere empfundene Machtdistanz eher eine hinzunehmende Aufgezwungenheit darstellte und "...die da oben - ...immer auf den kleinen Mann -...mit uns kann man es ja machen... - undsoweiter"
Solch selbst auferlegte Befehlsempfängerschaft und sich selbst erfüllendes Obrigkeitsdenken hat natürlich Konsequenzen.
Wer nach oben buckelt, der tritt nach unten aus.
NFZ: Sie befinden sich nun seit über zwei Jahrzehnten, mehr oder weniger freiwillig, in einer Art Exil, abgeschieden in mehrerer Hinsicht.
Diesen Blick - von Aussen sozusagen - nutzend, um nicht nur zu beschreiben oder zu bemängeln: was ist diesen Entwicklungen entgegenzusetzen, langfristig und konstruktiv?
U.U.: Ich maße mir nicht an, Patente auf Lösungen anmelden zu können.
Im Spätsommer 2020, wenn ich mich richtig erinnere, brannten plötzlich die Flüchtlingslager in Moria.
Für kurze Zeit reichte unser weißweingetränktes, schlechtes Gewissen aus, um medial eine Empörtheit zu inszenieren, die die Berichterstattung einer Woche gewährleistete, dann war Schluss, es kam nichts mehr, völliger Abbruch. Es schien, als hätte dieser verzweifelte Akt der Geflüchteten, die letzte ihnen zur Verfügung gestellte und von uns geduldete Daseinsoption in Brand zu setzen, uns mit etwas konfrontiert, dass wir als Überforderung empfanden, in dieser Deutlichkeit und Dringlichkeit. Es wurde einfach nicht mehr berichtet und es wurde auch nicht mehr gefragt. Ein Schlussakkord aus plötzlich einsetzender Erblindung und aus Informationsverweigerung.
Und das ist es eben, was ich meine, wenn ich davon spreche, dass wir uns jederzeit entscheiden und immer eine Wahl haben. Ignoranz und Negation, Aussitzen und Verantwortlichkeiten dementieren, das funktioniert nicht, das hat noch nie funktioniert. Das bringt mich zurück zur Beantwortung der Frage:
Ich sehne mich nach einer Rahmung aus Emphase, anstelle eines moralischen Korsetts.
Das schnürt uns die Luft ab.
Wir benötigen ein solidarisches und kooperatives Narrativ, anstelle einer überindividualisierten Verklärung, einen differenzierten und differenzierenden Dialog, keinen denunziatorischen Verruf, und nicht zuletzt die Re-etablierung der Unantastbarkeit der Würde, die der empörten Angefasstheit unserer dauersendenden Distanzlosigkeit etwas entgegenzusetzen hätte.
Amen.
Halleluja.
Vielen Dank für das Gespräch.
Dipl.-Hygiagoge im Hygiagogik-Zentrum Nordwest
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