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to russia with love

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märz 22#1 to russia with love 

Vom Fühlen und vom Denken:

Dass diese absolute, von allen geteilte, geforderte und evozierte Überzeugtheit, Irritationen auslöst oder vorantreibt.

Dass die Folgen und Auswirkungen eines Krieges ähnlich anpassungsbegabt sind, wie ein Virus. Dass die Einnahme und Beanspruchung einer Position, die ein totales oder auch nur ausreichendes Übersichtspanorama liefert, falsch und anmaßend ist.

Dass eigentlich jeder Gedanke, der aus einer exklusiven Beobachterposition urteilt, falsch und anmaßend ist, wenn die unmittelbare Betroffenheit fehlt, weil visuell und emotional aufgeladene Empfindungs-Emphasen die Ratio dominieren.

Der Blick verschwimmt, mit Tränen in den Augen.


Aber vielleicht ist das der Sinn der Sache?

Was weiß denn ich? Was kann ich mit Sicherheit behaupten? Welche Informationen stehen zur Verfügung, wo kommen die her, wie werden die generiert und transportiert? Welche Filter durchlaufen öffentliche „In-Kenntnis-Setzungen“ vor, während und nach deren Rezeption?

Wenn man versuchen würde, die eigenen, absoluten Wahrheitsansprüche und die Geltungshierarchien und Deutungshoheiten zu hinterfragen, sich also mehr in Bereichen von durchlässigen, dehnbaren, beweglichen und sich annähernden und verschiebbaren Realitäten bewegte, die man ohnehin vereinbart - oder eben nicht - 

Auch, um vermeiden zu können, in neue Stereotypen und alte Ressentiments zu verfallen, oder - aus Angst - darauf zurückzugreifen. 

Unantastbare Selbstgewissheiten entwickeln eine Selbstgerechtigkeitsdynamik - auch das gilt für alle Beteiligten eines Diskurses, einer Debatte, einer unterschiedlichen, immer wieder neu zu vereinbarenden Wirklichkeit.

Ich denke da an eine Art Trias: 

- Zweifelsbefreitheit - Selbstgewissheit - Selbstgerechtigkeit.

Das Ausbleiben von Auffassungshinterfragung und Infragestellung des vermeintlich Offenbaren, absolutes Ineinandergreifen von Vorstellung und Wahrnehmung, deckungsgleicher Konsens, der sich nahtlos einfügen lässt, ohne dass an den Rändern Falten entstehen, das - …äh, wird…ich meine…äh…-


Der Einzige, der also hier und jetzt noch fehlt, ist Guido Knopp.

Schön mal ne reißerische Doku draufknallen, schwarzweiss gezeichnet, schwarzweiss gemalt, absolut und eindeutig die Rollen verteilt, damit auch der letzte Depp es begreift-äh, begreifen tut:

DAS sind die BÖSEN. 

Das wiederum sind die Guten. Die sind blau, und gelb.

Die anderen: Nicht.


Russland vs. Ukraine

Hier die Aufstellungen:

Selenskij: Krieger

Klitschko: Held

Putin: wie konntet ihr so NAIV sein?

Scholz: Fantomas

Bundeswehr: die mit den Helmen…

Russland: der ewige Iwan

USA: Peacemaker

Orbanerdogan: doch gar nicht so fies

China: voll fies

Schröder: Schuss nicht gehört?

Schalke, Hannover, DfB: Schuss doch gehört


So sehen wir das, so habt ihr das zu sehen.

Und wer nicht schon spätestens letztes Wochenende Raviolidosen und alte Pullover gespendet hat, der hat noch nichts verstanden und spielt im falschen Team.


Die Dame im TV, die sich dann nochmal kurz ins Bild (vor-)drängelte, um kundzutun, dass es jawohl selbstverständlich war, eine ukrainische Familie im Souterrain des klimaneutralen Eigenheimes zu beherbergen - die will daraus aber kein großes Ding machen, das versteht sich von selbst, dass sie das jetzt tut, sie will da auch keinen Dank für…

Nur bisschen Sendezeit auf RTL.


Die Bäckerei im Pfälzischen, die den angebotenen Zupfkuchen adjektivisch sanktioniert. Das ist das Mindeste, was man jetzt tun kann.


Die Doku über die Klitschkos, ganz zurückgenommen und objektiv, das Geballere und die Hetze, die Einseitigkeit und das Tendenziöse, die Verflechtung und das Ineinandergreifen von Medien und Politik - das Gegröhle und Geklatsche, diese unglaubliche Aufladung mit Emotion, das MACHT MIR ANGST!

Gehts ein bißchen leiser? Kann man das auch kleiner halten?

Nein, kann man nicht, werden die Toten, die Flüchtlinge und die Hinterbliebenen, die Mütter und die Kinder der Soldaten sagen. Zu Recht.


Aber hilft das der Ukraine auch dann noch, wenn wir zwischendurch mal ausatmen und einen weiteren, einen Sekundärgedanken zulassen?

Unterstützen wir das Böse, wenn die russischen Paralympiker NICHT von den Wettkämpfen ausgeschlossen werden?

Wird es kriegsentscheidend sein, dass wir Bürger russischer Herkunft diskriminieren, dürfen wir deren Kinder noch zu Emmas oder Sörens Geburtstag einladen?

Sollten wir „Schuld und Sühne“, „Krieg und Frieden“, eigentlich ja gleich die kompletten, russischen Klassiker, nicht nur boykottieren, sondern besser gleich verbrennen?

Darf Klaus von Dohnanyi erst wieder medial mitdiskutieren, wenn er endlich aufhört, derart dröge und dialektisch aus der Zeit gefallen, zu differenzieren?

Habe ich das nicht verstanden, in der Tiefe nicht durchdrungen oder strategisch nicht zu Ende gedacht?


Ist der Typ komplett irre, diese Überschrift zu wählen?

Liebesgrüße NACH Moskau ?

Dorthin, wo 60% das BÖSE unterstützen, wo 30% das zwar nicht tun, sich aber trotzdem nicht auf Demos verhaften lassen?

Wo ist sie denn, die russische Sophie Scholl? 

Wir hätten doch damals, wir würden doch, aber sofort und ohne Rücksicht auf eigene Verluste - wir waren es ja schließlich, damals, Leipzig 89, das kam aus dem Volk, aus uns heraus, wir haben denen aber sowas von den Marsch geblasen und den Arsch versohlt… 

- heute um 15h eine Stunde für den Frieden beten

- um 8h45 John Lennon auf allen Sendern 

- warum laufen nicht ALLE Mannschaften in blaugelb auf? 

Ach so, dann kann man sie nicht mehr unterscheiden. 


Ich schäme mich für die große Fresse, die wir, die gerade wir, da momentan und aktuell auffahren.

Nicht mal 80 Jahre sind vergangen - nein, das überlasse ich Guido.

Nicht mal 40, da haben wir den Nachbarn denunziert, den Schwager abgehört - und, ja, vielleicht auch nur aus ANGST, weil der Mut fehlte, weil zu viel auf dem Spiel stand, weil die Geschichte sich noch nicht ereignet hatte, die Vergangenheit noch Gegenwart war, pures Jetzt.

Mittendrin sind wir gewesen, ohne den allwissenden Blick zurück und diese aus sicherer Entfernung abgefeuerten Vorhaltungen der immer alles Wissenden oder sowieso immer schon gewusst Habenden. 

DIe Koordinaten des Blickes von Außen und/oder Danach stimmen nicht überein, passen nicht zum Innen und/oder Jetzt, zum mittendrin des verwoben Dabeigewesenen, oder eben zur Betroffenheit der Verflechtung. 

…warum habt ihr nicht? …hätte man nicht? …das müsst ihr doch gemerkt haben…undsoweiter. 

Auch das ist Anmaßung, immer, überall, jederzeit.


Obszön. Gewalt wird da ausgeübt und angetan, 

im Besetzen einer erhabenen Position, im Etablieren einer erhöht-überlegenen Moralinstanz, die sich selbstgewiss ins Recht setzt, von oben urteilt und nach unten ver-urteilt.

Sich der aufgeladenen Stimmung und der gestreuten Emotionen bedienend, um sich mal richtig aufzublasen.


Dann den schnellen Applaus und den allerbanalsten Konsens einkassieren, indem sich proleptisch-reaktiv in die Strömung geschmissen und gemütlich darin treiben gelassen wird:

- du auch? ja, natürlich! toll! der auch? selbstverständlich, ist doch klar! Whatsapp-Status mit Friedenslicht? ist doch das Mindeste! nur eine Stunde Frieden beten? warum nicht zwei…

 - DER NICHT? Na ja, DAS hab ich irgendwie schon immer geahnt, da stimmte doch was nicht…


Die erste Stimme, die sich auf Befragung auf eine Weise geäußert hat, die mir klar, mutig UND mitfühlend erschien, war - Pointe - die eines 90jährigen, Baujahr 31, sich an eigenem Leben und Erfahrungswissen bedienen könnend.

Und wenn er davon spricht, dass der Apparat auf beiden Seiten resettet werden müsste, dann gehört schon einiges an Tendenziösität und Argwohn dazu, ihm Parteiergreifung für DAS BÖSE zu unterstellen…


Alle, die da helfen: 

Helft weiter, Respekt, ich bin zu sehr mit mir beschäftigt.

Aber hört auf, euch dabei filmen zu lassen.


Alle, die wie ich vom Sofa aus zusehen: 

Tut nicht so, als würdet ihr verstehen und begreifen.





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Autor Florian Giesenhagen

Dipl.-Hygiagoge im Hygiagogik-Zentrum Nordwest

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