D a R/5
TEIL 2 - 1996-1994
5 TAGEBUCHEINTRAG M - 12.12.96
Draußen schneit es, seit gestern schon. Dicke Flocken, in denen sich die Beleuchtung der Weihnachtssterne bricht. In unserem Zivi-Zimmer riecht es nach den Räucherstäbchen, die Erik angeschleppt hat, Patchouli und Weihrauch.
Es ist mir alles völlig gleichgültig. Gerüche, Möbel, Feste, Ritual und Jahreszeit - ich bin weit, weit entfernt, von allem und allen, von den Dingen, die einen Alltag strukturieren, die ein Leben anreichern und unsere Tagesabläufe definieren sollen.
Aber es ist okay so, ich bin bekifft, und ich bin jung.
Im Trakt nebenan, dort, wo wir Montag bis Mittwoch Dienst haben, wohnt Donata. Sie ist 57, schizoid, drogenpsychotisch, heroinanbhängig usw.. Sie lebt seit fast zwanzig Jahren in diesem Zimmer, in dieser Klinik. Ist das ein Segen, für Donata?
F verarscht sie, täglich, nimmt sie nicht ernst, wie beinahe alle. Mir tut sie Leid,, da sie einfach nur zu warten scheint, auf irgendetwas, und manchmal tut sie nicht einmal das, manchmal wartet sie nicht mal mehr, dann sitzt oder liegt sie einfach, stundenlang, auf mehreren Antipsychotika und Neuroleptika, kaltgestellt und ausgeschaltet, der essenziellen Resonanzfähigkeit beraubt, wenn das überhaupt möglich ist, so wirkt das dann, wenn man ihren Raum passiert, die halbgeöffnete Türe als letzter Verweis auf den noch bestehenden Anschluss an irgendeine Gesellschaft, an etwas überindividuales, einfach nur dieser kleine Spalt, den die Türe zwischen diesem Zimmer und der Welt, zwischen Donata und den anderen lässt, ein Spalt Hoffen und Sehnen.
Es ist seltsam, aber die Lächerlichkeit der Alten - also aller über 30 - scheint sich aus einem Gefühl der Unterlegenheit und aus der Erniedrigung zu nähren, die sich diese Fossilien selber zuteilen. Was sind das denn für BUCKEL, die ihr da herumschleppt, die ihr gezüchtet und euch aufgeladen habt? Selbst dieser riesenhafte Zweimeter-Mann, der Samstag im HAWEGE hinter uns an der Kasse stand, blickte irgendwie gebückt von schräg unten zu uns herauf, zu mir -172cm- zu T - 178cm - und zu F - 185cm…
Als würden sie sich schämen, für alles, was auch sie einst wussten und dann irgendwann, im Laufe von wenigen Jahren, vergaßen, verdrängten, vernachlässigten.
Was wir wiederum wissen, verstehen wir selber nicht, SIND wir einfach, agieren wir aus. Unser Vorsprung ist unmittelbar und körperlich. Wir sind Verheissung und Ernüchterung, wir konfrontieren euch mit allem, für das ihr euch beschämt seht, weil ihr es und euch nicht behaupten konntet.
Was die Jugend also seiend WEIß, kann sie selbst nicht kognisieren, kann sie niemals wirklich wissen. Sobald und sofern sie das täte, wäre dieser Vorsprung abgetragen, wäre dies so wichtige und unterscheidende Fenster geöffnet, und dieser blinde Fleck, der den Blick auf das Selbst abschattet, der die Unmittelbarkeit des Seins im Jetzt der Situiertheit ermöglicht und beim wirklichen Sehen entscheidend ist, der wäre beleuchtet und inexistent.
Was die Jugend weiß, kann sie demnach nur SEIN und VERKÖRPERN, hat sie nur anzudeuten, als Aus-und Einblick, als lässige Behauptung - eher ein Mittelfinger, der (auf) etwas zeigt, der irgendwohin weist, der eine Richtung ahnt und etwas spürt und aufspürt, was den anderen abhanden kam, auf dem Weg zu sich, zum ICH.
Je mehr ICH, desto weniger Welt. Ist das so? Ich meine, wird und muss das zwangsläufig so sein?
Ich sehe das, wenn ich F beobachte: Der schlaksige, eigentlich dürre Körper als eine kraftstrotzende, energetische Hinrotzung, demonstrative Überspanntheit, enervierte und nervende Aufladung, die nichts leistet, nichts kann und nichts tut, die aber trotzdem und deswegen eine Überlegenheit ausstrahlt und eine Arroganz dauersendet, die provokanter gar nicht sein könnte.
Gestern ist es deshalb eskaliert. Bei der wöchentlichen Gruppenbesprechung der Therapeuten, bei der immer alle Zivilidienstleistenden anwesend sein dürfen und müssen, hatten wir einfach dagesessen, hatten diesen Deppen zugehört, mussten nur darauf warten, dass sie sich zu inszenieren begannen - FILM AB!
Diese Trutsche mit dem Doppelnamen drehte als Erste frei, eine diplomierte Psychologin, wie eine Karikatur sie nicht adäquater hätte (über-)zeichnen können. Sie hatte unseren Blick auf sich gespürt, hatte diesem eine konkrete und eventuell sogar auch zeitweise vorhandene Verachtung entnommen und eine Verurteilung noch hinzugewiesen - letztlich Selbst-Degradierungen, die ihrer eigenen, situativen Verunsicherung entsprachen und ihrem grundsätzlichen Minderwert gemäß zu sein schienen.
F sah sie von der Seite an und lächelte, die feine Andeutung einer jugendlich-selbstbewussten Abgeklärtheit, noch völlig harmlos, halbsexuell und vierteloffensiv, an sich noch nicht konfrontativ, aber für sie schon ausreichend, allemal auffordernd, um in einen Kampf zu treten, den sie niemals hätte gewinnen können, weil schon der Einstieg in diese Hierarchisierung der Begegnung mit uns sie demaskierte, weil das Betreten des Spielfeldes der MACHT all das offenlegte, was sie für und mit sich selber nicht geklärt und bereinigt hatte.
Eine Frau dieser Art, die im Laufe ihrer ein halbes Leben dauernden, selbstoptimierten Nabelschau irgendwann ihr „INNERES KIND“ begrüßt, entdeckt, willkommen heisst. Es scheint dann für Therapeuten jeweils naheliegend und auch unkompliziert, solchen innerlich zerrissenen, abgestumpften und verkrachten Existenzen ein Trauma anzubieten, anzudichten, einen bestenfalls noch psychischen Missbrauch, den sie einfach nur verdrängt oder vergessen hatten, bislang.
Denn missbraucht sind wir ja alle, irgendwie. Wir könnten vielleicht und wir sollten sicherlich anderen Gebrauch von uns und den anderen machen, als wir es immer schon tun. Ausnahmen bestätigen wie immer die Regel. (Ist das so? Wer hat das ursprünglich behauptet und in den Volksmund transportiert? Oder ist das physikalisch zu verstehen, ist das eine logische Gesetzmäßigkeit?)
Die Anmaßung meiner Missbrauchs-Aussage und der personalen Zuschreibung besteht vielleicht darin, all denen, die tatsächlich Opfer körperlicher, emotionaler oder sexueller Gewalt wurden, damit dann die Exklusivität zu nehmen, die ein solcher Vorfall mindestens beansprucht und einfordert. Jedes „ich auch“ trägt dann etwas ab, dass in seiner Ungeheuerlichkeit und Heftigkeit aber nicht abzutragen oder in irgendein relativierendes Verhältnis zu setzen ist. Weil jede zwischenmenschliche Gewalt absolut ist, weil da keine Gewalt, die einem Menschen angetan ist, durch eine andere verhältnismäßig ist und relativiert werden kann. Die erfahrene Gewalt, das Angetane, kann und muss immer als Solches und für sich stehen, ebenso wie und gerade weil es auch als Solches und für sich durchgestanden und durchlitten sein muss - als Absolut, von jedem Einzelnen, von jedem Opfer irgendeiner Gewalt. Vielleicht hat sich die „Absolution“ in diesem Zusammenhang hervorgebracht, und letztlich auch insofern relativiert, denn erteilt werden kann das immer nur vom jeweils Betroffenen, vom Leidtragenden, von jenem, an dem ein anderer sich schuldig gemacht hat. Nicht aber stellvertretend, auch nicht von denen, die behaupten, das Götttliche stellzuvertreten.
Die Situation also - die Trutsche und die Gruppenbesprechung der Therapeuten, der Psychiater, der Sozialarbeiter und der Pädagogen: Sie ertragen die Stille nicht. Keiner dieser akademisierten Theoretiker ist nur ansatzweise dazu in der Lage, zehn Minuten Doppeldeutigkeit im Sozialen hinzunehmen, etwas auszuhalten, was uneindeutig bleibt, was widersprüchlich scheint, was sich nicht zugeschnitten in ihre ausgestanzten Muster fügen lässt. Jede theoretisch fruchtbare Dissonanz wird hier erstickt, verendet im Entstehungsprozess, durch die kollektive Ironisierung, Zynisierung, Verdrängung und v a auch durch diese Pseudowissenschaftlichkeit, der sich alle hier bedienen, denn ALLE wissen hier grundsätzlich ALLES, über jeden, so ist die Inszenierung, die Mimesis, die ICH-Konzeption dieser Spacken. Es wundert sich niemand mehr, es geschehen hier und für die Anwesenden keine Wunder, obwohl das Wunder ja immer schon da ist, weil eben DASEIN IST, weil es keine Antwort geben kann, auf die Frage, wer denn entweder Gott, Materie oder Evolution gemacht hat, bevor diese dann MACHEN oder schöpfen konnten, bevor überhaupt irgendetwas hätte SEIN können oder existent werden oder vorhandensein.
Da ist kein Raum für Ambiguität und auch kein Bedarf daran, keine Verwendung für all Jene und für Solche, die sich weder ein-, noch unterordnen, die diese Schablonen und ihre Zuschnitte nicht hinnehmen, die übergroß aus diesen bereitgestellten Rahmen und Rollenangeboten fallen, die fremd in all den hohlen, leeren Lebenswelten bleiben, die die Buckligen für sich selbst entworfen haben, konzipiert einzig für dieses lächerliche und angstbehaftete Schauspiel, das sie lebenslang veranstalten, für sich und alle anderen. Bevor irgendjemand diese innere Leere und äußere Hermetik hätte bedrohen, oder auch nur infragestellen können, würden sie sich schon formiert und entsprechende Psychopathologien aufgerufen und zugeteilt haben, die insofern jeden zu disqualifizieren hatten, der mit ihren Spielregeln auch ihre Rollenkonzeptionen verweigerte.
Dazu gehören definitiv auch wir, F, dieser schräg grinsende, lange Hänfling, der da vor ihnen flegelhaft rumlümmelte, keinen Ton von sich gab, und sich scheinbar für unwiderstehlich und überlegen in allen Belangen zu halten schien - was ein Arschloch, was für ein Idiot! - und eben auch ich, dieser schüchterne, unscheinbare Zwerg, der mehr als ein Anhang und eine Begleitung zu dem Schlaks zu sein, gar nicht einforderte.
Das hohle, intellektualisierte Geschwafel der Psychologen: Die reden da von Theoremen, die sie selber in der Lebenspraxis gar nicht nachzuweisen hatten, nicht zu erfahren, nicht zu erleiden und zu überwinden. Das gaben die Privilegien und die Lebenswelten nicht her, dass da gerungen werden musste, mit und um sich selbst, um Wirklichkeitsnachweise. Was sollte Dr.Licher einem Junkie über Sucht und Heroin erzählen? Was konnte der Typ darüber wissen? Es gibt in diesen Zusammenhängen nichts, was anzulesen wäre, theoretisch zu verstehen, „einfühlend“ zu begreifen oder zu vermitteln. Es kann dem Junkie nur von einer Seite geholfen sein: Von einem (Ex-)Junkie, der die Droge und die, bzw. eher noch SEINE Sucht tatsächlich durchlebt, durchlitten und hinter sich gelassen hat, der einen praktischen Nachweis einer, bzw. SEINER ureigenen Katharsis erbracht hat, und jeden Tag aufs Neue erbringt. Was weiß der Therapeut von und über Bulimie, Schizophrenie, Depression, wenn er selber keinen realen, existentiellen Zugang dazu hat, zu SEINER Bulimie, SEINER Schizophrenie, SEINER Depression? Ich dachte immer wieder: „Woher wollt ihr das alles wissen, was ihr da behauptet?“
Ich weiß es ja auch nicht, jedoch weiß ich das, ich weiß wenigstens DAS.
Aber ich dachte das alles nur, ich schreckte vor allem zurück, was mich ins Zentrum der Betrachtung gerückt, was mich direkt in den Siedepunkt der Begegnung und der Intersubjektivität gestellt hätte. F konnte und wollte sich wiederum nicht zurückhalten, genoss geradezu den Ärger, den er auf sich zog, suhlte sich in der provokanten Geste, trieb das auf die Spitze, was wir neulich die Macht der Resonanzverweigerung genannt hatten:
Das Ausbleiben jeglicher Bestätigung, unterlassene Zustimmung, ein angedeutetes Schütteln des Kopfes, statt eines Nickens, all diese von ihm negierten Gepflogenheiten im sozialen Raum - die Schonung, die dort eigentlich waltet, die proklamiert und reklamiert ist, jederzeit abzurufen, einzufordern, nonverbal - unser Austritt aus diesen hidden contracts verunsicherte sie, machte sie wütend, zwang sie zu Koalitionen untereinander, die sie hier, in diesem Kontext, grundsätzlich gar nicht benötigten, im geschützten Raum der eindeutigen Hierarchien, den das Machtgefüge einer Psychiatrie vorhält und bereitstellt. Was bildet dieser Zivi sich eigentlich ein?
„Darf ich was fragen? Warum tragt ihr eigentlich keine weißen Kittel, wie alle regulären Ärzte?“
Das war F´s Frage gewesen, und die schwebte und waberte zwischen den Köpfen umher, bedrohlich, dräuend, eine giftig-grüne Sprechblase im Raum, die jederzeit zu platzen drohte. Was mich dann überraschte, war die Unmittelbarkeit, mit der die Doppelnamen-Trutsche sich vergaß und provozieren ließ, aus der Haut fuhr, an die Decke ging:
„Du bist ein kleines, arrogantes Arschloch, Freundchen, weißt du das…?!?“
Es war als Zurechtstutzung gemeint, sollte F an seinen Platz verweisen und ihn dazu auffordern, diesen einzunehmen und nicht zu verlassen. Ihr habt zu schweigen, denn WIR haben das GELERNT…
Ein therapeutisches Räuspern von hinten links - Psychiater Dr.Licher, ein Kopfschütteln neben mir - Dipl.Psychologe Rolf Froboese, Schweigen und gesenkte Blicke, hier und dort. Es blieb unklar, wessen Aussage diese Gesten kommentieren sollten, ob es die Empörung der Trutsche noch zu unterstreichen hatte, oder ob es ihr dezent vermittelte, sich nicht weiter provozieren zu lassen. Die Frage war also lediglich, ob die beinahe zwangsläufig bei den Alten fehlende Integrität zu-und untereinander der Motor war, ob die beiden - Licher und Froboese - also einfach zu feige waren, sich selber zu äußern und somit vorzuwagen, sich raus-zu-trauen, aus der brüchig-fragilen Höhle ihrer pseudo-intellektuellen Überlegenheit, wo sie dann ja würden sichtbar werden, sich zu bekennen hatten, oder ob der Zwiespalt, in dem sie sich insofern befanden, als sie einerseits vor uns ihr Gesicht nicht verlieren wollten, aber andererseits auch der Trutsche gegenüber…loyal sein…und doch auch selber…irgendwie, äh…undsoweiter…
Ich muss den Kopf der Bong neu befüllen. Ich bin mir selbst zu nüchtern.
Das Problem am Schreiben von Tagebüchern besteht vielleicht in dieser Unmittelbarkeit, die man sich beim Texten abverlangt, das Denken auf direktem Wege zu Text werden zu lassen und zu Papier zu bringen. Weil da IMMER ein Adressat ist, eine Ansprache, ein Angesprochener.
Das Problem bei MEINEM Tagebuch besteht definitiv und zusätzlich darin, dass das Denken als Solches schon Stress erzeugt, das Denken DES und v.a. MEINES Gedachten eben, das ist inhaltlich UND formal ein Vorgang, den ich nüchtern nicht dulden und nicht aushalten will.
Wo war ich eigentlich gerade? Also vor der Selbstreferenz, noch vor der Meta-Analytik?
Apropos Meta - auch das ist etwas, was ich an F beobachte, dass er praktisch für jede Fragwürdigkeit, die die eigenen Handlungen, das eigene Denken und So-Sein betrifft, eine alternative Betrachtung bereitstellen kann, eine weitere oder vielleicht auch höhere Ebene der Verhandlung und Verständigung.
So auch hier, im Falle der eben erwähnten, schrägen Denkprozesse, die ihn ja noch entschiedener heimsuchen als mich, oder als T, da hat er neulich kundgetan, bezugnehmend auf eine Reaktion Eriks, der ihn - nach einem dieser sehr langen Monologe, mit denen F vor allem Erik traktiert, weil den das so anstrengt, nervt und stresst - dazu aufforderte, „doch bitte mal auf dem Teppich zu bleiben…!“
Ich hatte schlucken müssen, ich schwitzte unmittelbar, befürchtete, es könnte brenzlig werden, auch, weil wir alle wieder extrem stoned und auf Pilzen waren. F hatte Erik aber nur kurz angesehen, hatte die rechte Augenbraue hochgezogen und vage mit dem Kopf geschüttelt.
„Erik, du musst das auch aushalten können, wenn wir zusammen kiffen, Pilze essen, so psychoaktives Zeug in uns reinstopfen, dann musst du die Psychoaktivität auch zulassen, ertragen und stehen können, nicht nur deine eigene, auch und vor allem die der anderen, das ist DAS GESETZ, das noch nicht geschrieben ist, das aber allen völlig einleuchtet, dass man sich dann dort trifft und begegnet, wo das eigene Erlebnis auf einer Meta-Ebene verhandelt und betrachtet ist, in diesen Schnittmengen halt, in diesen Blasen, weil die es ja sind, die dann hinwegheben können, im und über den Moment…“
Undsoweiter. Erik hatte bereits im Mittelteil kapituliert, hatte die Arme vor der Brust verschränkt, den Mund zu einem dünnen Strich verzogen, schmallippig und klein, wie der ganze Erik, hatte sich dann den Grasbeutel genommen und eine neue Mische präpariert, einfach nur, um etwas zu tun, um irgendetwas tun zu können, was ihn aus der Bedrängnis befreien konnte.
Ich frage mich das immer wieder, situativ: Ist das tatsächlich die Fähigkeit, die darüber befindet, ob es möglich ist, mit einer Person zusammen zu kiffen:
Der Abgleich des Erlebens, im Augenblick der Begegnung?
Gelingt das, dann bildet sich diese MOMENTANE Schnittmenge eines geteilten Geschehens, eine Art cannabinoide, zeitlose Blase, die die Beteiligten einschließt und trägt, und in der sich das Erlebnis mitsamt Erlebenden augenblicklich, ja, hinweghebt, als Eingriff reiner Gegenwärtigkeit. Gelingt das nicht, dann wird es anstrengend, spooky - dann wartet und droht diese Entfremdung, die sich in diesem Zustand nur umso drastischer auswirkt und unangenehmer anfühlt.
Egal, weiter im Text - die Zurechtweisung der Trutsche also, und das, was mir in solchen Situationen angetragen ist…
Ich weiß ja, was mein Part und meine Aufgabe ist - ich muss F ansehen, ihn wirklich sehen und wahrnehmen, muss den Rahmen für das Bild bereitstellen, muss BEI IHM sein, damit er BEI MIR bleiben kann, das Einfachste der Welt, die ursprünglichsten Begegnungs-Mechanismen, der Andere, das Angesehensein, die Rollen, die wir spielen - und doch hörte ich mein Herz schlagen und von innen gegen meinen Brustkorb klopfen und pochen, weil die Stille sich über das intersubjektive Gewebe in diesem Raum legte, wie ein nasser, viel zu schwerer Mantel.
Vielleicht aber auch nur, weil ich am Morgen keine Benzos mehr in meiner Schublade vorgefunden hatte. Mir fehlt dann die Abgestumpftheit, die Gleichgültigkeit, das chemisch erzeugte Phlegma, um der eigenen, angelegten und eingeprägten, emotionalen Überreizung begegnen und entgegenwirken zu können, um sich bestenfalls, aus beiden Richtungen und Extremen, in der Mitte annähern und aufhalten zu können, in und anhand einer emotionalen Souveränität, von der ich annahm, dass das Valium sie erzeugen könnte.
Dass ES gelingen würde, war mir in dem Moment klar, als F zu lächeln begann, nicht manieriert oder überbetont, eher dezent, entspannt, gelassen und nur angedeutet: „Habe ich dich verletzt?“, fragte er die Trutsche und sah dabei zu mir. Das war 1:1 übernommen, wahrscheinlich entlehnt aus dem DOORS-Film von Oliver Stone, in dem Jim Morrison diese Worte zugeschrieben sind. Aber das war und ist okay, das Zitieren von Film-Zitaten hatte sich länger schon eingeschlichen, als eine Befähigung, in der es galt, Meisterschaft zu erlangen - den Kontext finden, die Situation erfassen, in der es eben möglich war, zu zitieren, wortwörtlich, ohne dass es bemüht oder offensichtlich wirkte, ohne, dass es peinlich war.
Die Frage und die Aussage galten ja ohnehin nicht wirklich der Trutsche, es war an mich adressiert, wie alles andere auch. Wenn es grundsätzlich gilt, Realität zu vereinbaren, dann auch situativ die Rollen, die wir spielen. Diese Überzeugung hatten wir bald zu einer Vereinbarung ausgeweitet, anhand derer wir uns durch das Sein, vielmehr durch die Situationen gleiten und treiben ließen, sich je im anderen spiegelnd, um alle anderen und die Welt, die uns begegnete, gemeinsam zu erblicken und zu konturieren, wie aus EINEM BLICK. Vom anderen angesehensein, indem man ihn ansieht, in dessen Blick sich entfalten und SEIN, sich aus spiegelnden Augen sehen und jeweils als die Gesehenen agieren, jedoch immer optimiert, mit enormer Hybris versehen und ausgestattet, sich gegenseitig völlig überzeichnen, damit man handeln kann, sich in der empfangenen Liebe sonnen, suhlen, austoben, oppositionell in jeder Situation, deren Protagonisten diese Rollen und Bilder nicht unmittelbar sehen und bestätigen, die also insofern nicht mitspielen, weil sie entweder das Spiel nicht kennen, oder gerade weil sie es tun.
Vielleicht war es für mich von jeher Macht, die sich mir daraus anbot, Raum, den wir eroberten, Möglichkeiten, die sich mir erschlossen, etwas zu SEIN, jemanden zu verkörpern, für den anderen, also für F, und dadurch auch für den Rest, für die, die wir aus unserer Wirklichkeit ausgeschlossen hatten, die wir nur teilnehmen ließen, bald schon Statisten, denen wir gemeinsam Rollen und Gesichter zuwiesen. Für F ist es wohl eher eine Art Spiel. Und beides ist moralisch sicher fragwürdig. Aber es sind jeweils Fragen, die ich nicht zu beantworten gedenke, weil ich sie mir nicht stelle, weil ich das Moralisieren den Buckligen überlasse. Dort, wo ich es einrichten kann, halte ich Abstand von und zu allem, was mich wirklich betreffen könnte.
Jede Konfrontation mit einem Sachverhalt findet nicht kognitiv, nicht intellektuell statt. Gedanken alleine, als Solches, konfrontieren nicht. Der Angang und das Betroffensein erschließt sich aus emotionaler Verwobenheit, aus gefühlshafter Teilnahme, als Empfindung, nichts sonst. Ich habe damit begonnen, das zu beenden, es zu unterbinden, jede Aufwallung von Emotion abzuklären, einzuebnen, mit Hilfe der Substanzen, die von Natur und Pharmaindustrie dafür bereitgestellt und konzipiert sind.
Während ich das schreibe, fährt ein ziehender Schmerz in meinen Unterleib. Habe ich Hunger?
Jedenfalls sah F dann der Trutsche irgendwann direkt in die Augen, erntete empörtes Zungeschnalzen von Froboese und Licher - eine gut eingeübte, kollektive Bestürzung senkte sich auf sein Haupt, die dieser plötzlich zusammengeschweissten Riege auch deshalb so leicht fiel, weil da plötzlich und unverhofft ein gemeinsamer Feind identifiziert war. Es sind wahrscheinlich die häufigsten, die einfachsten und auch die fragilsten Freundschaften und Bündnisse, deren Allianzen sich aus gemeinsamen Feinden ergeben. Es machte und macht mir Angst, wie einig sie sich sofort waren, wie entschieden sie die vorher gar nicht existenten Reihen schlossen, wie unverhohlen sie sich nicht erblödeten, gemeinsam und -plötzlich durch einen avisierten Opponenten vereint- über einen zwanzigjährigen, bekifften „Idioten“ herzufallen, diese studierten, aufgeklärten Bildungsbürger, welche Dynamik da zur Aggression und Ventilation aufzurufen schien. Hätte F gelegen, körperlich, am Boden - sie hätten alle nochmal drauf-, rein- und nachgetreten, einfach nur, um durch die Wut und die gerichtete Aggression ihre brüchigen und grotesk aufgeblasenen Selbstbilder behaupten und aufrechterhalten zu können.
Dann verließ die Trutsche abrupt und unmittelbar den Raum, um eine Art von Märtyrerdasein sich bemühend, bediente sich ganz automatisch eines inszenierten - und, ja, leider auch weiblichen - Opferhabitus, forderte das Kollegium somit zur Verteidigung ihrer angekratzten Restwürde auf und suchte - wie wir dann später erfahren sollten - direkt das Direktorium auf, um F´s Rausschmiss einzufordern („entweder der geht, oder ich kündige…“). Selbstverständlich war sie damit erfolgreich.
Ab Montag leistet F die restlichen drei Monate seines Zivildienstes in der klinikeigenen Wäscherei ab, eingebettet in eine pragmatische Horde von zwölf Frauen in befristetem Dienstverhältnis, Stundenlohn 8 Mark Fünfzig, brutto.
Er freut sich darauf, und im Besprechungsraum der therapeutischen Belegschaft kehren endlich wieder Ruhe und geordnete Verhältnisse ein.
Ich hoffe, hier niemals als Patient zurückzukehren…
Dipl.-Hygiagoge im Hygiagogik-Zentrum Nordwest
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