ersteWorteblog

IST

Blog Single
Februar 21/1 # IST

1.) IRRITATIONEN

"Den Unterschied von Sehen und Verstehen kann man nur sehen, nicht verstehen." (Rombach)

Wiederkehrende Irritationen. Über die Anmaßung, unbeteiligt und im Fehlen jeglicher Erfahrungsähnlichkeit, zu urteilen, zu bewerten oder mich auch nur zu äußern, bezüglich fremder Lebenswelten und deren Vollzüge. Robert Enke, zum Beispiel.(Blog "Sinn der Freudlosigkeit") Wobei es ja nicht um Enke als Person oder um dessen Suizid geht, gegangen sein soll, sondern u.a. darum, dass die kulturelle Tabuisierung solch organischer Vorgänge, wie Leid, Verzweiflung, Tod und Sterben, wie auch der soziale und stigmatisierende Verruf, der Jene zu ereilen droht, die sich dem Tabu willentlich, fahrlässig oder mangels Alternative widersetzen, nicht nur in Einzelfällen wesenhafte Selbstentfremdungen erzeugt. Dazu später mehr.

 Was sind wir, noch und mittlerweile? Wer oder was trauen wir uns, zu sein? Verängstigte und bequeme Verdrängungsapparate? Bis zur Karikatur verzerrte Radierungen unserer Selbstbildnisse, verzweifelt-selbstoptimierte Körper, künstlich aufgeblasene, aber dennoch erschlaffte, spannungslose Selbstentwürfe ? Völlig entkernte Phantomzeichnungen dessen, wer, was und wie wir meinen, sein zu müssen, im Angesicht eines jahrhundertelang andauernden Missverständnisses und Fehlverhältnisses der "Conditio Humana"?

Die mit Descartes eingeleiteten Reduktionismen und Dualismen - Körper und Geist, Geist und Materie, Subjekt und Objekt - , die Sonderstellung und die Dominanz des Denkens als vermeintlich urgründige Instanz für Dasein und für Zweifel, das aus diesen Verwirrungen geblasene und ewig brüchige Milchglas, auf das wir uns basieren und durch ebendas wir die Welt erfahren - hier drinnen wir und da draussen die anderen und die Welt - , sowie ein rein erkenntnistheoretischer Weltzugang, der jede Empfindung und Leiblichkeit zum Epiphänomen degradiert. Alles Versuche, zu erklären, ob und wenn wann wir eigentlich falsch abgebogen sind und wodurch Befremdlichkeit entsteht, oder eben Gründe dafür, warum wir uns voneinander und von uns selbst entfremden. Umso wichtiger und schöner dann, sich bei jeder Begegnung, auch und v.a. bei der Arbeit mit Klienten, immer auch klarzumachen, wer wir sein KÖNNTEN. Einen Gegenentwurf parat zu haben, eine Idee davon, wer da mit uns spricht, drei bis elf Schichten tiefer, und wie es gelingen kann, zu begegnen, Bewertung und Beurteilung reduzierend, auf Augenhöhe und innerhalb einer emphatischen Rahmung, das alles also irgendwie "geschehen" oder bestenfalls gelingen zu lassen, auch indem von Anfang an und grundsätzlich die eigene Intentionalität geklärt und bereinigt ist.

Weiter bei Descartes: All die nutzlosen "Erkenntnisse" und Theorien, die fortan und seitdem die (Geistes-) Wissenschaften und v.a. die moderne Philosophie kennzeichnen, Schopenhauer, Freud, Wittgenstein, theoretische Physik! Ich rede mich um Kopf und vielleicht Kragen, klar. Aber zumindest spreche ich mit Einsatz, versuche auszusagen, setze was aufs Spiel und riskiere, nicht zuletzt: mich lächerlich zu machen. Alleine dadurch, es ernst zu meinen. Natürlich ist das anmaßend, all diese "genialen Denker" mal eben so über einem Kamm zu zerreißen, unter Verwendung eines kultivierten Viertelwissens. Aber es ist notwendig, es bringt fühlen und denken einander wieder näher, es verschafft freiere Atmung, Raum, Entfaltungskapazitäten. Das hat uns alles nicht weiter gebracht, hat unserem Zusammenleben und unserer Ko-Existenz nichts entscheidend Konstruktives und Pragmatisches hinzugefügt. Wir sind uns seitdem und dadurch nicht näher gekommen, haben uns sogar eher noch in Verdrängung und Bequemlichkeit eingerichtet, haben verlernt, uns mit uns selbst auseinanderzusetzen und mit anderen zu verständigen. Weil wir ja meinen, alles (und vor allem: UNS) bereits erklärt und verstanden zu haben. Aber die tägliche Praxis zeigt, dass das eben nicht der Fall ist, eher im Gegenteil.

 Ich denke, wenn wir wirklich LERNEN wollen (im Sinne eines Lernens, das dort erst beginnt, wo Gewohnheiten verändert werden, in fühlen, denken und handeln und wo Akteure am Lerngegenstand interessiert sind), dann müssen wir zunächst einmal entrümpeln, Platz schaffen, uns klarmachen, welche Art von Wirklichkeitsauffassung zu welchen Daseinsvollzügen und Seinsgestaltungen führt, welche unserer vermeintlichen Erkenntnisse und Überzeugungen das Da-Sein zu einem dieser Art gestalteten So-Sein formen, und umgekehrt, weil das ja ineinandergreift, weil das wechselwirkend ist, Wirklichkeit und Existenz. Vielleicht uns auch wieder dessen vergegenwärtigen, worauf sich unsere Realitäten aufbauen und wovon unsere Glaubenssätze sich konstitutiv speisen, denn das sind ja alles keine zementierten Tatsachen, sondern eben Theorien und Konstrukte, die auf Erfahrungen, Wahrnehmungen und Denkvorgängen anderer Menschen basieren, auf die wir uns irgendwann einmal - mehr oder weniger - geeinigt haben, die wir eingeleibt und übernommen haben durch unsere Sprache, durch die Symbole, die wir schaffen und verwenden, durch die Art, wie wir UNS ERZÄHLEN und durch das, was wir verkörpern und weitergeben, von Generation zu Generation.

Und wenn die Jahre 2020/21, diese globale und existentielle Krise und dieser "Reset-Knopf", den wir da seit bald einem Jahr gedrückt halten, dann rückblickend irgendeinen Nutzen gehabt haben sollen, dann unter Voraussetzung eines radikalen Hinterfragens und einer bereinigten Reflexion, die jeden einzelnen betrifft und die ernst macht, sich nichts vormacht und nicht weiter verdrängt. Nicht wieder stopfen, flicken, reparieren, sondern komplett auseinandernehmen und vor der neuerlichen Montage bzw. Einrichtung sich überlegen, was es denn am Ende darstellen und werden und für alle bedeuten soll. Jeden noch so kleinen Kiesel umdrehen und uns anschauen, was darunter zum Vorschein kommt. Aber das geschieht nicht. Neue Fallzahlen, Inzidenzien, Durchhalteparolen! Super-Bowl, Handball-WM, Schnee im Winter!

Es macht mir Angst, dass vor ziemlich genau 100 Jahren eine Art "historische Ko-Inzidenz" aus den Ereignissen abzuleiten ist, in dem Sinne, dass auf die existentielle Krise (erster Weltkrieg) mit einer Wiederbelebung von mythischen Narrativen und der "Aufzucht" von mythisch-archaischen Bewusstseinen reagiert wurde, dass der kollektive und gesellschaftliche Nullpunkt, die totale Finsternis und Stille nach (und rückblickend: vor) der Katastrophe, eben nicht als potentieller Wendepunkt begriffen und gestaltet wurde. Aus immer noch stärker werdender Angst vor wirklicher Veränderung und eigenen Beteiligungsoptionen dann lieber gleich die eigentlich überwundenen Traditionen und überkommenen Gesellschaftsstrukturen wieder herbeisehnen! Es ist schon erstaunlich, wie sich in solchen Situationen jene zu profilieren wissen (und auch, wie nach ihnen gerufen wird), denen eine starke "Führungspersönlichkeit" zugeschrieben wird!

 Weiter zur Tabuisierung: Diese pseudoreligiösen und empörten Aufladungen vonöffentlicher Wahrnehmung und Debatte, dieser übelriechende und faulende Muff, der da hinter vorgehaltenen Händen langsam Gärung betreibt, all jenes, was sichtbar ist und nicht gesehen werden soll, was in letzter Konsequenz den Nährboden für empfundene Ausweglosigkeit, vollzogene Isolation und für existentielle Verzweiflungen aufbereiten mag, und wodurch sich im Einzelfall dann selbst für Familienväter ein "Schienensuizid" (Enke) als Option darstellt, das waren und sind im Kern die Phänomene, denen ich mich anzunähern versuchte, mit den Mitteln des unmittelbaren Sprechens.

 Weitere Irritationen. Diesmal über die direkte Rede und die unverstellte und nicht zurückgehaltene Aussage. Im Prinzip darüber, es ernst zu meinen. Die Angreifbarkeit des Unzynischen. Die Nacktheit, die im Verzicht auf Ironie besteht, entsteht. Das ist ja gerade die Absicht, im Blog, sich durch die Unmittelbarkeit des Schreibens angreifbar zu machen, auch durch das eigene Urteil, das eigene Korrektiv. Aber: Wie kann ich mir da sicher sein? Es gibt kein sich direkt in Sprechen transportieren lassendes Denken. Es vollzieht und es verändert sich in der Ansprache, es existiert außerhalb der Mitteilung als Solches nicht, weil jeder Gedankenfetzen schon und erst auf Grundlage eines bestehenden Anderen, eines Adressaten, sich bildet. Jedes ICH ist das Resultat eines Abspaltungsprozesses aus dem WIR. Ich kann nur sprechen - mehr noch - da ist nur Denken, weil es nicht nur mich und Ich, sondern auch dich und Du gibt. Was in Konsequenz dann auch bedeutete, dass Ich und mich sich bereits nur auf Grundlage des du und Dich konstituierten.

2.) VER-SICHERUNGEN

Dann lieber T. beobachten. Ihm zuschauen, wie er lacht und wie er sich bewegt, durch seinen Raum. Es ist das Lineare, das ihm noch fehlt, und das ihm dadurch Eingebundensein ermöglicht, ihn noch im Ganzen sein lässt. Da ist noch kein Zeitgefüge, keine linearen Abhandlungen, der Ereignisse, der Momente, nichts ist da, was das Hingegossensein in sein augenblickliches Erleben bedrohen könnte. Er weiß nicht, dass er endlich ist. Er weiß es noch nicht. Angst, Irrtum und Verfall haben ihn noch nicht ergriffen. Er stirbt nicht, weil er nicht weiß, dass er sterben wird. Er hat keinen Bezug zu Tagen, Stunden und Minuten.

 Wenn wir ihm erklären sollen, wie lange er im Auto sitzen muss, um hier oder dort anzukommen, müssen wir uns mit Sendungen oder Geschichten behelfen, die er kennt, "zweimal Sams hören", "dreimal die CD"! Das ist doch famos, dass er das nicht greifen kann, Zeit, Vergänglichkeit, sogar das Nach-einander, als Bedinglichkeit für Zeitbestehen-und empfinden! Ein Sein als reines Da-Sein, als reines Geschehnis, immer nur Jetzt, dieser Augenblick, diese Begegnung, WELT immer nur dort, wo er sich gerade befindet, immer nur dann, wenn er sich dort befindet, keine Unterscheidung zwischen SEINEM und DEM Leben, weil es nur dieses eine (Er-)Leben gibt, in seiner Gestaltung und mit seiner Wirk-lichkeit.

 Da wird auch keine Realität vereinbart, unter kleinen Kindern, zumindest nicht verbal, weil diese einfach immer nur vor-gefunden und bestaunt wird. Das "Staunen" aber nicht als Entsprechung zur phänomenologischen Zurückhaltung des Urteils, bzw. zur Epoche´, da dies sich wohl insofern zueinander verhält, wie die Strömung zu der Hand, die in die Strömung gehalten wird. Es ist ein noch hermetisches (Zusammen-)Sein, welches Kleinkindern gelingt, ein Solches, das sich in Sprache nicht hinreichend fassen lässt, da Aussagen konstatieren und Dynamik nicht konstatiert werden kann. Es scheint manchmal, als sprächen sie nicht "über" Dinge, sondern aus den Dingen. Das Wort dient nicht dazu, das Erlebnis fest-zulegen, nachrangig. Erlebnis und Wort wirken eher wie und als eine Art "Substrat" deren Ineinandergreifens, unmittelbar, fließend. Das Sein ist noch ursprünglich An-Sich, ist noch nahezu identisch mit sich, weist noch nicht ausreichend Distanz zu sich selbst auf, noch kein Selbst- Verhältnis, welches die Seinsfülle mindern könnte. Ein Welt-Zugang, der sieht, statt zu verstehen, der ergriffen bleibt, nicht fest-stellt, der sich unentwegt mit-reißen lässt und insofern hermetisch ist, als sein Wesen sich dem Verstehen entzieht, und dies solange auch bleibt, wie dessen Schonraum - eben die Hermetik selbst - bestehen bleibt. Ähnlich der Dunkelheit, die man durch Beleuchtung zu erblicken sucht.

Wenn T. sich beschwert, "Papa, du stellst mir soviel Fragen!", dann werde ich mit sanftem Nachdruck auf mein Miss-Verständnis hingewiesen, verstehen zu wollen, was er gesehen hat, was nur zu sehen ist, was grundlos Tiefe ist - und sich somit dem flachen, zweidimensionalen Verstand entziehen muss. In jenem Moment, in dem – und indem – sich dies verändert, wird aus dem Werden ein Vergehen, werden die Dinge linear und verlassen das Zirkuläre, vergehen die Sekunden und Minuten, die Stunden und die Tage. Der "spürbare Riss", den Sartre definiert, setzt ein, mit der Anwesenheit bei uns hören wir auf, identisch mit uns zu sein. Das, was anwesend ist, bei sich, kann sich nicht selbst sein, weil Anwesenheit auf Getrenntheit, auf mehr als EINS, verweist. Ich kann mich ziemlich genau erinnern, wann das geschehen ist, und was da für eine Lücke bleibt, was für ein Sehnsuchtsort dadurch entstehen kann. Vorrangig ist dann letztlich, was das bedeutet und ob – bzw. welchen Sinn diese Erinnerung und dieses Empfinden macht: Entscheide ich mich für Nostalgie, für Melancholie, für ein Sein, dass den Kern dieser Sehnsucht als temporär und im Vergangenen verortet, oder fasse ich es als Hinweis auf, der etwas andeutet, was gegenwärtig fehlt und worauf ich mich zukünftig ausrichten und beziehen kann? Oder, anders und konkreter: will ich wieder Kind sein, Entwicklung retardieren, mein "inneres Kind" (angeekelte Grüße an die spiritistische und homöo-psychische Fraktion!) wiedererwecken, oder setze ich mich mit den Potentialen auseinander, die die eigene Freiheit und Verantwortlichkeit erzeugen? Der Widerstand, den irgendeine vermeintliche, angenommene, "absolute" Sicherheit unmittelbar erzeugt, in mir, vor jedweden fundamentalen Unantastbarkeiten. Die Anmaßung der Überzeugtheit. Wie wissen, wie auch nur ahnen, oder spüren, wann aus der unreinen eine reine Reflexion wird? Wodurch erkennen, ob und wann Aufrichtigkeit entsteht, sich etwas (als) authentisch darstellt? Unsicherheiten, ähnlich der Problematik und den Unschärfen, die hinsichtlich des Fragebogens zur Erfassung der Veränderungsbereitschaft (FEVER) bestehen: Fragestellungen, die das eigene Problembewusstsein betreffen und thematisieren, können auch nur anhand und im Rahmen des bestehenden oder sich selbst zugewiesenen (Problem-) Bewusstseins verhandelt werden. Wie das Vorhandensein und die situativ besonders präsente mimetische Identität berücksichtigen, als Befragter und als Antwortender? Wer decodiert und beantwortet denn da solche Fragen, die die Fähigkeit zur Selbstdistanz gleichzeitig ebenso verhandeln, wie sie diese voraussetzen? Wenn das zu überprüfende Moment gleichzeitig ein für die Durchführung konstitutives Element darstellt, werden zwangsläufig Unschärfen und sich überlagernde Schichten aktiviert, um "blinde Flecken", oder "tote Winkel" zu umgehen, um mir das Erkennen des eigenen Standpunktes durch ein temporäres Verlassen desselben zu ermöglichen. Oder so. In jedem Fall lassen sich bereits jetzt - nach ca. zehn beantworteten Fragebögen - Unstimmigkeiten ablesen, die sich anhand der verschiedenen Perspektiven des Assessments und seinen Methoden, ergeben und ablesen lassen: Ein wenig ausgeprägtes Problembewusstsein wird die Fragen nach der eigenen Ausprägung naturgemäß widersprüchlich, oder gar antiproportional beantworten, das zeigen die Tendenzen der Ergebnisse ganz deutlich. Wo nicht bis wenig vorhanden, werden die Antworten also ein hoch ausgeprägtes Problembewusstsein andeuten, während derjenige, der sich selbst ein geringes Problembewusstsein zuschreibt, ja dadurch bereits auf die vorhandene Bewusstheit und Reflexion dieser Problematik verweist. (Ähnlich des Phänomens, dass derjenige, der von sich behauptet, er sei nicht kritikfähig, diese Aussage dadurch bereits prinzipiell infrage stellt oder zumindest relativiert.)

Die Ausgangsthese der Studie wird dadurch aber eher noch gestützt: Ohne Problembewusstsein keine Veränderungsbereitschaft, aber ohne Diskrepanz-Empfindung auch kein (dreidimensionales), kein "echtes" Problembewusstsein. Vielleicht sind es diese Phänomene, die die Studie als Ergebnisse beleuchtet, weniger die konkreten (Mittel-)Werte und Varianzen!

Wo war ich? Mimetik, Authentizität, reine Reflexion. Am ähnlichsten sehen sich Menschen immer dann selbst, wenn ich ihnen in ihrem größten, empfundenen Schmerz begegne. Stimmt das? Ist dieser Eindruck prägnant? Ist das Erkenntnis, oder eher Verweis auf die eigene Verdrängung? Ich will mir nichts vormachen. Aber woher weiß ich, dass mir diese Absicht nichts vormacht?
Diesen Blog teilen:
Autor Florian Giesenhagen

Dipl.-Hygiagoge im Hygiagogik-Zentrum Nordwest

0 Kommentare

Schreibe einen Kommentar

jQuery(".bt-switch").bootstrapSwitch();