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Der Depp von heute ist morgen der, der gestern ein Depp war

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JUNI 22#1 DER DEPP VON HEUTE IST MORGEN DER, DER GESTERN EIN DEPP WAR

In der Tiefe der Abwassersysteme sammelt sich etwas an, es staut sich, bis der Dreck schon durch die Gulliritzen dringt und an der Oberfläche sichtbar wird. 

Es stinkt. Man kann jetzt sehen, riechen, spüren und vernehmen, was bislang nur vermutet war.


Es ist noch früh am Morgen, ich warte vor dem Radio auf die Affenpocken-Inzidenz. Die NRA klärt ihre Bürger darüber auf, dass der einzige Schutz vor schweren Waffen in den Händen ganz regulär geistesgestörter Amerikaner, darin besteht, schwere Waffen, noch mehr schwere Waffen, ganz viel immer noch mehr noch schwerere Waffen, in die Hände von ganz regulär geistesgestörten Amerikanern zu legen, die anhand der Scriptvorlage für die Rollen der GUTEN gecastet sind. 

Jedes amerikanische Drehbuch ist Vorlage für einen s/w-Film.


DIE GUTEN: 

Erschießen keine Kleinkinder. 

Laufen nicht Amok.

Können sich zusammenreißen.


Auf dem Fahrrad muss ich einer Töle ausweichen, nachdem ich vorher bereits von Entgegenkommenden Radlern verbal zusammengefaltet wurde, da ich mich „AUF DER FALSCHEN SEITE“ befinde. Einer verlangsamt sogar sein Tempo und setzt zu einer ultimativen Maßregelung an. 

Er schaut empört bis entsetzt, es verlassen ihn die Letzten seiner guten Geister, als ich weiterfahre und seine Belehrung nicht bereitwillig hinnehme. 

Seinen Text liefert er dennoch ab, schmeißt ihn mir hinterher, im bewährten und ihm vertrauten NS Kasernenhof-Tonfall.


Dem ausgewichenen Hund, einer Art Zwergratte mit Pullover, ist ein Mensch anhängig, tendenziell weiblich, livide-violettes Gesicht.

Die Frau reagiert ungehalten säuerlich, weil ich scheinbar zu schnell an der jetzt giftig bellenden Kreatur vorbeigefahren bin:

„Mann Mann Mann, keine Augen im Kopp oder was? 

Ein Hund is schließlich auch nur ein Mensch!“


Sagt sie wirklich, und nimmt den Hund auf den Arm, der sich erstmal sammeln und konsolidieren muss - er ist in diesem Zustand keinesfalls mehr gehfähig. 

Ich nehme an, er wird das eigentlich für morgen angesetzte DOG-YOGA nun schon heute brauchen, muss wieder in seine Mitte finden. Der BEWEGTE HUND.


Weiter gehts. Langsamer jetzt, ich bin auf alles vorbereitet,

denke ich.

Gegen Ende der total ereignisarmen Reststrecke werde ich von einem aus einer Einfahrt herausschießenden Radfahrer vollständig übersehen und seitlich attackiert. 

Ich fliege, wie ein aerodynamischer Hecht. 

…über meinen Lenker und lande auf dem Pflaster. 

Unelegant. Hart. Aua.

Bin im Schockzustand, irgendwas hat sich in mir ausgefädelt, die Wahrnehmung büßt die Reste von Konsistenz ein, alles verschwimmt, franst aus und wirft Falten, an den Rändern.

Aus einem Reflex schaue ich mich um, wie geht es meinem Kontrahenten?

Ich kriege aber nur noch sein Hinterrad zu sehen, der ist schon wieder unterwegs.

Ich denke: „Hä?“- wortwörtlich.

( Was ist das für ein Wort - „wortwörtlich?“ - gibt es das, ist das korrekt? Und was hat das zu bedeuten? ) 

Dann, der Folgegedanke, sozusagen: „Was…?“

Auch nicht vollständig, es sind nur Gedankenfetzen.

Ich stottere kognitiv, nach innen.


Es gehen drei bis vier Passanten ausweichend an mir vorbei. Einer steigt über mein ausgestrecktes Bein, das ich mir hospitalisierend reibe. Ich bin kurz davor, um Verzeihung zu bitten, ich liege den Leuten hier auch wirklich voll im Weg.


Dann denke ich an den Mann in Essen, der vor ein paar Jahren neben einem Bankomaten gestorben ist, über den die Leute auch umständlichst steigen mussten, um an ihr Geld zu kommen. Aber jetzt übertreibe ich natürlich, meine Situation und mein Widerfahrnis.


Dennoch gelingt es mir nicht, mich hineinzuversetzen, in die Lebenswelten derer, die Zeuge eines Fahrradunfalls werden, auf den verwirrten und auf dem Gehweg kauernden Beteiligten zusteuern - und sich dann entscheiden, diesem Hindernis auszuweichen. 

Bedeutet ja, dass man konfrontiert und vor eine Wahl gestellt wurde. Bedeutet auch, dass da in Folge Gedanken gedacht und Schlussfolgerungen gezogen wurden: 


„Da hatte einer einen Unfall. Aha.“

„Der liegt da jetzt so komisch rum und reibt sich wild sein Bein. Soso.“

„Ich gehe genau auf den zu. Der liegt auf meinem Weg. Der liegt mir IM WEG. Aha.“

„Was tun?“ 

„Muss ich jetzt…? Sollte man da…?“

„Da sind noch andere Fußgänger. Gut!“

„Ich hab auch keine Zeit grad. Ausserdem, wer weiß denn, wie der Typ da reagiert, mit seinem komischen Reiben am Bein, der sieht auch voll schräg aus, das kann auch eine FALLE sein! Und vielleicht ist der ansteckend…“

„Ich STEIG DA JETZT MAL DRÜBER…“


Hört sich seltsam an, aber irgendetwas müssen diese Leute ja gedacht, gefühlt, empfunden haben. Irgendwelche Fürs und Widers müssen sie hin-und hergewälzt - und sie werden sich an etwas erinnert haben. 

Erfahrungen werden herangezogen worden sein, Abgleiche haben stattgefunden, mit ähnlichen Szenerien, Vorstellungen haben eingesetzt, Fakten wurden innerlich ausgebreitet und dargelegt, und irgendwann, innerhalb des gegenwärtigen Moments, in einem einzigen Augenblick, haben sie sich für und gegen etwas entschieden. 

Geht gar nicht anders und nicht ohne, jede situative Wahrnehmung und Konfrontation mit Wirklichkeit heisst auch unmittelbare Rolleneinnahme, Erfahrungsabgleich, Entscheidungsfindung. Man entwirft sich für die Situation und die Anforderung, und man sieht sich sodann mit der jeweiligen Entscheidung - rückwirkend und nachhallend - entworfen. Man hat sich mit dem eigenen Beschluss festgelegt, SO ZU SEIN, genau DER ZU SEIN, der jetzt auf diese Weise handelt. 

Auch die Enthaltung, das intentionale „Nichthandeln“, ist einerseits Ergebnis und Folge einer aktiven Beschlussnahme, sowie andererseits auch Tätigkeit, Festlegung, Eingriff und HANDLUNG. 

Alles ist Antwort. Die Beteiligung an SOZIALEM konfrontiert in fließendem Übergang mit Optionen und mit Fragestellungen.

Das ist der Grund, warum es sich leichter schreiben lässt, weil das Sprechen zumeist in Gegenwart eines Anderen stattfindet, wodurch das Denken wild oszilliert. Die Störgeräusche der Interaktion irritieren, stellen Fragen und fordern durchlaufend Antworten und unmittelbare Entscheidungen ein.


Je konkreter und bewusster die Fragen, die das Soziale aufwirft, gestellt sind und reflexiv artikuliert werden, je transparenter sich deren Gegenstand und Hintergrund vor das Bewusstsein führen lässt, desto aufrichtiger und autonomer die Stellungnahme, desto mehr Antwort in der Reaktion.

Die Wahrscheinlichkeit einer Entsprechung erhöht sich, zwischen Auffassung und Auslegung, Denkvorgang und Handlungsvollzug.


Es ist wahrscheinlich falsch, zu behaupten, Leute handelten im Affekt am authentischsten. Das würde demnach bedeuten, der Mensch wäre im Kern das, was er unmittelbar fühlt, also eine psychologistisch-Freudsche Reduktion dessen, was Charakter, Wesen, Menschsein ausmacht und bedeutet.

Ebenso, wie Betrunkene nicht am ehesten und deutlichsten sagen, was sie denken, sondern eben nur am ehesten und deutlichsten das, was sie im vergifteten und maximal enthemmten Zustand noch zu denken in der Lage sind.


Und es ist ebenso fragwürdig, wenn behauptet wird, man wäre nur wirklich „man selbst“, wenn man alleine ist. 

Man ist dann so, wie man sich gerne sähe, oder wie man sein kann, wenn man nicht hinsehen muss. 

Der Abgleich findet jedoch erst im Sozialen statt, dort müssen sich dann die situativen Entwürfe als tauglich erweisen. Die idealisierten Selbstskizzierungen erzeugen stets den größten Stress, was aber okay ist, denn ein Ent-wurf ist immer auch ein Wurf, etwas, das sich ausstrecken soll, nach irgendwohin ausholt und greift, auch oder vor allem dann, wenn die Ausholung nicht auf Naheliegendes zielt, wenn sie nicht das Bewährte oder Mögliche anvisiert, wenn sie weiter ist, als der Radius des Erreichbaren.


Immer der Depp bleiben, der man heute ist, macht ja keinen Sinn. 


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Autor Florian Giesenhagen

Dipl.-Hygiagoge im Hygiagogik-Zentrum Nordwest

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