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sinn der freud-losigkeit

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JULI 20/1 # sinn der freud-losigkeit

Und immer wieder und überall, bis in die kleinsten Ritzen dringend, durch die feinsten Verästelungen fließend, aus jeder unserer Poren tropfend: Freudianisierung unserer Existenzen. Die "Psyche" hat uns verdrängt, in Grund und Boden analysiert, da ist kein Platz mehr für fühlen, denken und empfinden, für Freiheit und Verantwortung...

Was hat es damit auf sich, was ist das für ein Irr-Sinn, dass beinahe unsere gesamte wissenschaftliche Elite, zumindest aber deren abendländisch- etablierter Teil, sich auf ein psychologisches Theorem beruft, welches uns unserer grundsätzlichen und wesenhaften Freiheit beraubt und uns somit der Verantwortung entzieht?

Wir sind nicht "Herren im eigenen Haus"? Wir können zwar tun, aber nicht wollen, was wir wollen? Wir sind triebgesteuert und Instinktabhängig? Nichts weiter als Reptilienhirne, auf zwei Beinen?

ICH / ES / üBER-ICH. Das sind wir? Das soll es dann, das sollen wir dann gewesen sein? Vielleicht beruhen die gesellschaftlichen Entstellungen der Moderne ja auch auf dem Festhalten an - und sich Berufen auf - den Freudschen Annahmen, denn das ist es, was sie im Grunde sind: Annahmen, Theorien, Thesen eines Mannes, die auf irgendeine Weise kollektiv so zu überzeugen schienen und scheinen, dass sich kaum jemand noch darauf besinnen kann, dass es sich um solitär ebendies handelt. Ein Paradigma, nichts weiter.

Diese Konstrukte haben sich derart tief in alle Bereiche unserer Kultur gefressen, dass deren Metastasierungen kaum noch als Solche zu identifizieren sind. Es ist scheinbar zu verlockend, es ist zu einfach und bequem, sich psychologistisch und reduktionistisch die Fähigkeit absprechen zu lassen, über das eigene Wollen entscheiden, respektive das eigene Handeln verantworten zu können. Es dient dann als Erklärung und als Entschuldigung für individuelle und gesellschaftlich-kollektive Verfehlungen, bis hin zu Handlungen, die anderen massiv Schaden zufügen. Und es erscheint geradezu ungeheuerlich, dass sogenannte "psychologische Gutachter" autorisiert sind, Mördern, Vergewaltigern und Pädophilen die "Schuldfähigkeit" abzusprechen. Diese übelste Ausprägung der Folgen des Freudianischen, wo wir im gesellschaftlichen Spiegel die entstellte Fratze unserer Individualität erblicken, ist womöglich ja nichts weiter als eine langfristige Folgeerscheinung der fehlgeleiteten Annahme, nicht wollen zu können, wie und was wir wollen, nicht Herr zu sein, im Haus, über das Haus, durch Triebe gesteuert, libidinös durchs Dasein zu wanken und zu schunkeln, unsicher, unstet, auf vorgezeichneten Pfaden, deren einzige Unterscheidung zum Dschungel eventuell in der Vernunftbegabung des Tieres "Mensch" liegt? Es wäre lächerlich, wenn es nicht so tragisch wäre. Sobald und sofern ein Mensch Sätze mit "Ich" beginnen oder formulieren kann, hat er seine Fähigkeit zur Selbstzuschreibung und somit zur übernahme von Verantwortung hinlänglich bewiesen, Trieb hin, Instinkt her, mit oder ohne "Unter-bewusstsein", unabhängig seiner vermeintlich ja lebenslang federführend und ins Steuer greifenden, libidinösen und ödipalen Verwirrungen. Er hat seine Handlungen und seine Unterlassungen vollumfänglich zu verantworten, er ist schuldig, weil er wesenhaft frei ist, weil da keine vorgeburtliche Essenz sein Dasein sinnstiftend determiniert, weil er weder vernunftbegabtes Tier, noch gottesgleiches Wesen, weder Triebempfänger, noch Vermehrungsbeauftragter ist, sondern per Existenz dazu aufgefordert, aus sich das zu machen, was er sein kann oder will, meinetwegen "zur Freiheit verurteilt" ( Sartre ), ins Dasein geworfen, wie auch immer, in jedem Falle aber: Vergänglich und anderen begegnend.

Wenn es denn etwas wie eine "Conditio Humana" gibt, dann besteht sie am Ehesten aus diesen drei Komponenten ( frei nach Sartre ), einfach deshalb, weil diese am wenigsten anzuzweifeln sind oder konstruiert erscheinen, weil wir sie schicksalhaft und definitiv teilen, alle, mit allen:

–  Unser Dasein ist endlich und begrenzt.

–  Wir sind ins Dasein geworfen, ohne zu wissen, warum, ohne gefragt worden zu sein.

–  Wir sind soziale Wesen, wir begegnen anderen.

Daraus ergeben sich dann jeweilige Anforderungen, die sich uns allen stellen: Hinsichtlich der Endlichkeit sehen wir uns dazu aufgefordert, diese begrenzte Zeit zu verwirklichen und unsere Handlungen und Unterlassungen zu verantworten.

Die Geworfenheit fordert uns dazu auf, uns selber eine Bestimmung zu erteilen, eine Art von Sinnhaftigkeit und Bedeutsamkeit, uns zu dem zu entwickeln, was wir sein wollen und/oder können, wozu wir uns entscheiden, zu sein. Weil wir das WARUM nicht fragen können, sollten wir das WOZU beantworten. Die Begegnung mit Anderen stellt uns letztlich die Aufgabe, uns zu verständigen, je nach individueller, geographischer oder kultureller Prägung auch angereichert mit tugendhafter Ausrichtung oder eben nicht, dem Grundphänomen Liebe folgend, oder eben nicht.

2011 hat sich die Stadt Hannover dazu entschlossen, die Straße, in der der Verein seinen Sitz hat, nach Robert Enke zu benennen. Nach jenem Enke, der im November 2009 seinem Dasein einen tragischen Schlussakkord setzte, indem er sich vor einen vollbesetzten Zug warf. Die Tragik in Robert Enkes Leben - Depressionen, Tod der zweijährigen Tochter - steht für sich und gilt es zu respektieren, wie jede andere individuelle Tragik auch. Das Dasein und die Lebensleistung einer Person aber, durch dessen Suizid, posthum aufgewertet zu sehen und inszeniert zu erhöhen- einem Suizid, durch den Ehefrau, zweijährige Tochter ( 2009 adoptiert ), Angehörige und nicht zuletzt das Zugpersonal, wie auch die Fahrgäste traumatisiert hinterlassen werden - verweist wiederum auf unsere fehlgeleitete, doppelmoralingesäuerte Auffassung dessen, was wir entscheiden können und zu verantworten haben. Vielleicht konnte Enke ja nicht anders? Vielleicht war er nicht Herr im eigenen Haus, konnte nicht so wollen, wie er wollte oder gewollt hätte oder hätte wollen sollen oder wollen? Hätte die Stadt Hannover die Straße auch nach Enke benannt, wenn er noch leben würde, einfach depressiv am Leben geblieben wäre? Hätten seine sportlichen und menschlichen Leistungen jemals ausgereicht, um diese "Ehrung" zu erfahren?

Ich befürchte, nein. Nicht, der vermeintlichen Herabwürdigung seiner Leistungen wegen, sondern aus der andernfalls abgängigen "Tragik", des Fehlens einer ausreichend märtyrerhaften und ausschlachtbaren Sensationsanreicherung. Und hätte man all jene dazu befragt, die er mit seiner speziellen und dramatischen Wahl des Vorganges unbeteiligt ko-traumatisiert hat, was hätten die geantwortet, all die Fahrgäste, der Zugführer, das Personal? "Ja, der Enke hat 8 Einsätze für die Nationalmannschaft, das reicht alleine nicht aus, um Gedenkfeiern und Straßennamen zu bekommen, aber er war ja depressiv! Und er musste Schienensuizid begehen, der hatte keine andere Wahl, haben wir Verständnis, eine Straße muss es schon mindestens sein! Wir freuen uns jede Woche und verneigen uns, wenn wir auf dem Weg zum Traumatherapeuten an der Robert Enke Straße vorbeikommen."

Was ist mit all jenen, die depressiv und noch am Leben sind, die Schicksalsschläge erleiden und weitermachen, die sich jeden Tag, an jedem Morgen wieder dagegen entscheiden, sich vor Züge zu werfen? Schlägt ihnen so etwas ins Gesicht, frage ich mich? Ist das nicht auf perfide Art eine Degradierung ihrer Verantwortungsbereitschaft? Auch, wenn Leiden immer individuell ausgeprägt und somit nicht zu vergleichen ist, auch, wenn jedes Lebenswerk differenziert und jede unserer Handlungen für sich stehend bewertet werden muss, auch, wenn der Abgang Enkes ihn nicht zum schlechten Menschen macht und seine sonstigen Handlungen entwertet: Soviele Straßen können wir nicht bauen, wie wir ehren müssten...

Nun, um abschließend Missverständnisse zu vermeiden, wo dies möglich und ratsam ist, um den Grad des Aufschreis und der öffentlichen Empörung ( der drei bis sieben Leser...) etwas runterzupegeln: Es steht mir nicht zu und es ist nicht meine Absicht, als Unterbewusstseins- Laie, als Nicht-Psychologe und als Fremdling in der Welt von ICH und ES und üBER-ICH, aus einem Viertel-Wissen heraus die gesamte Leistung und Konzeption eines anerkannten, honorierten Wissenschaftlers zu beurteilen oder gar zu negieren. Es bleibt aber eine diskursive Notwendigkeit, in Frage zu stellen, anzuzweifeln, auch und vor allem Solches, was auf eine Art anerkannt und etabliert ist, dass es sich schon in Sphären von vermeintlicher Selbstverständlichkeit bewegt, von sich selbst Erklärendem und Legitimierendem. In der Verklärung eines Paradigmas zu einer Gegebenheit, einer Theorie zu einer Grundsätzlichkeit, einer Konstruktion zu fundamentaler Ontologie, bestehen subtile bis nicht mehr so subtile Gefahren: Alles, was wir wahrnehmen, denken, erfahren, jeder noch so kleine Ausschnitt von gelebter Wirklichkeit, webt sich immer voll und ganz in jede Faser unserer Stofflichkeit. Alles bildet sich in allem ab. In jedem Affekt, in jeder Mimik, in jedem Gedanken sind wir immer vollumfänglich enthalten und eingeschrieben. Und unsere Irrtümer und unsere unhinterfragten Annahmen verfahren auf dieselbe Weise. In Bezug zu Grundstrukturen von Realitäten und Lebenswelten, zur Einteilung von Seiendem, zu Daseinsauffassungen und zu menschlicher Phänomenalität, bleiben diese nur umso unmittelbarer und folgenschwerer kleben und haften. Der "freud`sche Versprecher des Fünfjährigen wächst sich aus zum ödipuskomplex des Fünfzigjährigen.

Welch Trauerspiel, welch eine Vergeudung und Verschwendung, von Möglichkeit und Potential. Was für ein unglaublicher Mumpitz, mit Verlaub...

Die Leistung Freuds besteht womöglich im Auf-decken, im Einrichten und im öffnen einer neuen, einer weiteren Dimension. Diese dann in Bereiche zu verlegen, in die wir nur schwerlich ( und wenn, dann nur "psycho-analytisch"...) Einblick und auf die wir vermeintlich keinen Zugriff haben, frei und entscheidend, ist mindestens fragwürdig, darf und muss dies auch sein, bzw wieder werden.

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Autor Florian Giesenhagen

Dipl.-Hygiagoge im Hygiagogik-Zentrum Nordwest

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