ersteWorteblog

HALO

Blog Single

Juli 22/1 # HALO

Beim Schauen dieser Dokumentationen über die sich jährende Flut in NRW und Rheinland Pfalz, da fiel es mir wieder auf.

Wie schräg das wirkt, wenn genau diese Generationen, die im Alltag so völlig dumpf vor sich hin senden, auf den sozialen Medien sich ein Paralleluniversum geschaffen haben, dass die analoge Daseinserfahrung bereits vollständig ersetzt zu haben scheint, dass genau die dann bei einem solchen Ereignis plötzlich ein Gesicht zeigen, dass schon immer auf eine Gelegenheit gewartet zu haben schien, sich zu zeigen und zu bewähren. Dieser Helfershuttle mit tausenden von 15 bis 30 jährigen, die da ins Ahrtal gereist sind und wochenlang für umsonst geholfen haben, das hat mich zutiefst erschüttert. Was habe ich eigentlich derzeit getan? 

Vielleicht sind gerade diese Leute, die so absolut am Tiefpunkt in die Welt geworfen sind, vielleicht sind die handlungsfähig, aus ihrer Verlorenheit heraus?


Und was fehlt denen in ihren Daseinsroutinen, ebenjenen, die ich sonst als versunken in sich und in Virtualität wahrnehme, die völlig unverbindlich und entscheidungsunfähig einen tristen Alltag auszusitzen scheinen, was fehlt denen, um diese Potentiale ausschöpfen zu können? Sinn? Vielleicht. Sicher. Sobald es wirklich ernst zu werden scheint und mal um etwas geht, was eine dritte Dimension aufweist und direkt an-geht, sind sie plötzlich wach und da und präsent. 

Es ist kolossal, was sich da auftut, was für eine Aussage das machen kann, im Hinblick darauf, was die Art von Leben, die wir mittlerweile unsere Wirklichkeit nennen, mit denen macht, die es nicht anders kennengelernt haben, nicht anders leben konnten. Ja, das alles ist echtes Leben, das sind echte Menschen, die da über den Bildschirm sprechen und agieren, die kann man anfassen, die haben Gefühle und die leiden, täglich.


Was mit den nach 2000 Geborenen wirklich in den prägenden Jahren geschehen sein muss und täglich geschieht, kann man nur erahnen und versuchen zu rekonstruieren.

Ein Wirklichkeitszugang und eine Realitätserfahrung, die schon dermaßen aufgeweicht vom Virtuellen und vom Digitalen ist, dass die alltägliche Konfrontation mit Welt, Leben und Sein nicht mehr wirklich und ausreichend als real begriffen und nicht mehr in der Tiefe durchdrungen wird.

Und wenn dann so etwas wie die Flut letztes Jahr geschieht - und etwas diesen Ausmaßes muss es dann auch leider sein, ein Ereignis, dass einem den Schock in die Glieder fahren lässt und unmittelbar aufzuwecken imstande ist - dann schauen sie sich um, mit weit aufgerissenen Augen, erschrocken, ganz plötzlich ganz wach, und schreien „hier, wir sind da, wir kommen, wir helfen, wir wollen etwas tun, was sich wirklich nach echtem Leben anfühlt und was uns sinnhaft erscheint.“

Das ist wunderschön, und gleichzeitig so zutiefst tragisch.

Weil es auch die Erstarrung deutlich werden lässt, aus der wir uns alle kaum noch lösen können, den Würgegriff, in den uns der Alltag und die Lebenswelten nehmen, täglich, jeden Augenblick.


Es ist das Paradoxon dieser, unserer Generationen, dass sie einerseits völlig phlegmatisch und egozentrisiert ihr Dasein vor sich hin fristen, selbstoptimiert, archaisch, bloß nichts entscheiden und keine Verantwortung übernehmen, und andererseits dann sich wirklich bewegen und etwas bewegen wollen, wenn es zu zählen scheint, wenn sie den An-Gang auch spüren.

Sag uns doch endlich jemand mal, dass jeder Tag echtes Leben ist, jeder Augenblick Realität und jede Begegnung Gelegenheit. Wir können doch nicht jedesmal Naturkatastrophen benötigen, um Teilhabe zu generieren.

Hört sich hart und zynisch an, aber es tut weh, wirklich richtig weh, zu beobachten, dass da Generationen einfach schlafen, auf Stand-by gestellt sind, völlig abgestumpft und unfähig, sich selber zu wecken und zu kneifen und als momentan lebend aufzufassen.

Ich merke das ja jedesmal, wenn Klienten kommen, die um die 20 sind, wie die durch die Behandlung, durch das Angefasstsein dann berührt sind, plötzlich wach werden und erzählen, teilnehmen, interagieren.

Wie da Leben und Farbe in Augen und Gesicht fährt, wie die Säfte auf einmal beginnen zu fließen, spürbar, wie dankbar das aufgenommen wird. Nicht wirklich bewusst, klar, aber Bewusstheit wird manchmal überbewertet, sich der momentanen Situation bewusst werden bedeutet eben manchmal auch, diese zu zerstören, dadurch. Eine ausgelassene Stimmung einer Gruppe ist solange ausgelassen, bis einer sich erblödet mitzuteilen, dass alle hier ja gerade total ausgelassen sind. Das war es dann gewesen, mit der Ausgelassenheit.


Egal, wo war ich?

Ist ungefähr dasselbe Thema, wie das, was jetzt spätestens im Winter kommen wird, nur umgekehrt.

Wir werden solange blaugelb tragen und uns solidarisch inszenieren, bis dann tatsächlich Solidarität gefragt ist, bis es uns selber wirklich betrifft, zuvorderst am Geldbeutel und somit am Lebensstandard und in unseren Komfortzonen.

Ein sich verdreifachender Gaspreis wird dazu führen, dass die Mehrzahl der Deutschen und der Europäer wieder zurückrudert, kompromissbereiter sind, hinsichtlich des Kreml, wieder relativieren, was jetzt absolutiert und verdammt wird. Scheisse, das tut ja richtig weh hier, das KOSTET!

Ich bin schon gespannt darauf, wie sich die Debattenkultur dann langsam aber sicher dreht, wie auch wieder Gegenstimmen zugelassen sind, wie der Klimawandel plötzlich doch nicht so krass und dringend mehr ist, weil wir es ja warm haben müssen und wir ja hier auch nicht die einzigen sein können, die verzichten und blablablub.


Das Schlimme ist, dass all diese Dinge, die in den letzten Jahren sich ereignet haben, ja eigentlich auf einen Wandel hinweisen, darauf, dass etwas endet, was es nicht verdiente, zu bestehen, was uns vom Wesen her aufgeweicht hat und träge und satt hat werden lassen. Träge, satte Zellsäcke auf Sofas und vor Bildschirmen, das sind wir, von weitem betrachtet. Und es wundert uns tatsächlich, dass wir von denen verachtet werden, die täglich hungern und verhungern, darben und uns dabei beobachten müssen, wie wir uns so kolossal in unserer eigenen Wohlstandssuppe wälzen und suhlen, die wir größtenteils auf deren Kosten angerührt hatten?

Das darf und muss sich verändern, und Veränderung kann weh tun. Dass da andere wieder sterben und leiden müssen, Kinder und Frauen, um das zu verdeutlichen, ist furchtbar, und ebenso furchtbar ist, zu beobachten, dass das alles nicht auszureichen scheint, dass wir uns weiter festklammern, an das vermeintlich Bewährte und Überholte, dass wir die bereits abgestoßene und schuppige Haut uns wie einen speckigen Mantel immer wieder versuchen, überzustreifen. 


Eine Haltung aufzufinden und einzunehmen und beizubehalten, die sich nicht in Fatalismen und Pessimismen flüchtet, das ist schwer und gleichzeitig jetzt das Einzige, was wirklich zählt und noch sinnvoll erscheint. Haltung einnehmen, sich dessen vergegenwärtigen, was wir eigentlich sind und dass wir eigentlich sind, alle zusammen, jetzt gerade, auf dieser runden Kugel, die uns da gerade abschüttelt.

Vielleicht mal irgendeine, gemeinsame Vision entwickeln und bereitstellen, die uns wieder Richtung geben kann. Anstelle die äußeren Bedingungen, die uns längst entglitten sind, zum tausendsten Mal zu modifizieren, ohne sie zu verändern, um sie nicht zu verändern, mal über das Menschsein als Solches sprechen, zur Diskussion stellen, ob es da definitorisch Nachholbedarf gibt, die Wesenheit betreffend und auch die Arten und die Weisen, wie wir uns begegnen, oder eben eher nicht.

GEMEIN-SCHAFT ist früher gesetzt, unmittelbarer und unbedingter zu verorten und organisiert, nicht künstlich und nachträglich hineinzudenken, nicht regional, national, typologisch, religiös oder ästhetisch.

Keine Kirchen mehr. Die Kirche sind wir.


Diese unvorstellbaren Mengen an Geld, an Kapital, an angehäuften und sich ständig weiter anhäufenden Vermögenswerten, die Leute wie Gates, Bezos oder ich da akkumulieren, täglich, die erzeugen und bedeuten eben auch

ein entsprechendes Soll an sozialer Verantwortung und moralischer Einwandbefreitheit. 

Es installiert sich damit gleichzeitig und automatisch eine Art An-und Aufforderung, sich einer besonders aufgeladenen FÜRSORGE-Ethik zu verschreiben, die weniger darin besteht, irgendwelche Stiftungen nach eigenem Ermessen medienwirksam zu platzieren („ich kann mit meinem Geld ja machen, was ICH will und für richtig halte“), sondern vielmehr einen Dialog über gesellschaftliche Relevanzen und kollektivierbare Wohlfahrtspositionen zu moderieren.


Es werden auch hier Menschen erfrieren, mittendrin, unter uns.

Teile unserer Gemeinschaft werden verhungern, sich das Leben nehmen, nicht mehr in der Lage sein, sich selber zu ernähren oder grundzuversorgen. 

Währenddessen werden andere vier Wochen auf den Malediven sein, Urlaube für 20 000€ machen, Autos für 200000€ kaufen, Häuser für 2 Millionen bauen und darin residieren.

Es fliehen Mütter mit Säuglingen nach Deutschland, darauf angewiesen, dass sich Menschen (ehrenamtlich) ihrer annehmen und dass steuerfinanzierte Modelle greifen, die letztlich auf der Unantastbarkeit ihrer Würde basieren.

Das ist alles absurd, auch, wenn das naiv klingt, naiv und sozialromantisch.

Aber in manchen Situationen erscheint eine naive Herangehensweise, eine vorsätzlich re-installierte Naivität oder Blauäugigkeit der Auffassung und der bedingenden, grundsätzlichen Fragestellung, als der pragmatischste Hebel.


Da ist dieses Gefühl, diese Dunkelheit, die mich anfällt, ganz plötzlich, perspektivische Überblendungen, fatal.

Das geht so nicht, also anders, alles anders denken:

Vielleicht muss da etwas freigelegt werden, freigemeißelt, aus dem formlosen Brocken Mensch, nicht von oben nach unten verordnet, vorgegeben, sondern von unten heraus, aus der Mitte der Einzelnen geschürft und in ständiger Auseinandersetzung, aus der Differenz heraus und über den Dissens hinweg, bereitgestellt und verfügbar gemacht.


Es besteht in dieser -wie in jeder - Krise die Chance und die Gelegenheit, menschliche Wesenheiten auszugestalten, zu wachsen, einzeln und gemeinsam, weit auszuholen, mit großem Anlauf zu springen, um sich etwas anzunähern, das irgendwann einmal als Scheitelpunkt einer sich nach oben öffnenden Parabel beschrieben werden kann. Am absoluten Tiefpunkt, dieser abgeflachten Scheitel-ebene, ging es nach beiden Seiten nur noch aufwärts - Bewegung vorausgesetzt.


Wir sind nur ein Entwurf, ein momentanes Stadium des Prozesses, eine Skizze - und obendrein eine mit hoher Unschärfe, mit verschwimmenden Konturen, eine Zeichnung, an der zu häufig radiert und zu wenig ausprobiert wurde, weil man die Vorlage für geltend und für ein vorgegebenes Original hielt, und immer noch hält.

Und wir erleiden dauerhaft Überformungen, die aus einer Überreflexion und einer monolateralen Reflektiertheit entstehen und zirkulär wieder darauf hinauslaufen, immer wieder.


Alles ist wichtig, das Kleine im Großen, das Große in jedem Kleinen, jegliches in Jeglichem, immer.

Ein stilles Gespräch überdauert, verbindet und durchleuchtet alles, Welt ist Netz, Muster und Gewebe, Welt atmet und bewegt sich.

Und jeder Laut ist Teil des Orchesters, jedes Tun und jede Unterlassung webt sich in die Stofflichkeit, strickt an Musterung und Faser, durchzieht die Gewebsstruktur.

Welt dehnt sich und Welt dehnt sich aus, Welt ist Dehnung und Bewegung.

Das Gewebe kann nicht reißen. 

Wir sind die wilden Glieder unserer Welt.


Wie sagte diese ältere Dame im Ahrtal, aus dem Off heraus, beim Filmen der großen Flutwelle, die ihre Nachbarhäuser wegriss und die sie aus ihrem Dachfenster vorbeischwimmen sah: „Lieber Gott im Himmel!“

Ja, genau. Da soll Zweifel und Verzweiflung sein. In alle Richtungen und gegen alles anbrüllen. Uns wieder rückbinden an irgendetwas, das uns (aus)halten kann.

Und die Peinlichkeit und die Scham überwinden, die immer dann auftaucht, wenn wir meinen und versuchen, aufrichtig zu sein und das auch kundtun.


Ich erinnere mich, an diesen Tag im Sommer, als ich einen Vogel am Bürgersteig sitzend fand, schwach, ausgetrocknet, entkräftet. Ich trug ihn in den Schatten und stellte ihm etwas Wasser hin, im Verschluss meiner Flasche. 

Dann kam ein Mann vorbei, sah das und setzte sich zu uns, ohne Worte, half mir, dem Tier zu helfen. Wir saßen da, etwa zehn Minuten, sprachen nicht. Es war kühl, im Schatten, es war ruhig, zwischen uns und dem Vogel. Als der dann tatsächlich und plötzlich begann, zu trinken, da sahen wir uns kurz an, und lächelten. 





Diesen Blog teilen:
Autor Florian Giesenhagen

Dipl.-Hygiagoge im Hygiagogik-Zentrum Nordwest

0 Kommentare

Schreibe einen Kommentar

jQuery(".bt-switch").bootstrapSwitch();