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D a R/4

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4 KLINIKPROTOKOLL M - 23.12.97
Schließen Sie die Augen, Herr O., atmen Sie tief ein und aus, versuchen Sie, an nichts Konkretes zu denken.
Was sehen Sie?“

Wir sitzen wieder bei Licher im Büro. Es ist wieder kurz nach drei, es ist wieder ein Tag im Halbschlaf zur Hälfte bewältigt, hat sich verbraucht, halbverdaut und halbgelebt. Es kommen Farben, zunächst, dann Bilder, die ich noch nicht greifen kann. Ich sehe die Nacht, ich fühle die Nacht, irgendeine Nacht, in irgendeinem dieser Jahre, die vergangen und Geschehen sind.
Es ist nicht gut, was ich da beginne zu erinnern, es ist keine gute Empfindung, die sich mir jetzt auslegt, in die ich mich nur noch zu begeben habe, die ich ausgestalten muss, damit auch das Gedächtnis aktiviert wird, immer anhand
eines Gefühls, eines Songs, eines Geruchs…
Erinnern tut sich immer zuerst der Körper. Da ist ein Auto, da ist wieder ein Wagen, der sich herausschält, aus den dunklen Farben, ein nachtblauer Fiat 500, den Fabi fährt, in dem wir sitzen. Es dämmert, es kommt der Morgen, die Sonne will aufgehen, malt ein Prisma ausOrange, aus Violett, aus Rot in den Himmel. Töne setzen ein, die Musik erklingt, und dann erscheinen die Bilder, die Erinnerung ist da, ich habe Zugriff auf alles, was sich an diesem Morgen ereignet hat.
Fangen Sie einfach an, berichten Sie davon, was Sie sehen, Herr O., und versuchen Sie, sich zu entspannen...“

25.9.95

Bevor Fabi in seinem Fiat 500 ungefähr 23 Runden um diesen Kreisel vor dem Club drehen sollte, in der Morgendämmerung, „Spaceman“ von Babylon Zoo schepperte lautstark aus den Boxen, bis zum Anschlag aufgedreht, aufgedreht wie auch wir, den ekstatisch schreienden F auf dem Beifahrersitz, mich und T

und Erik hinten, uns an der großen Blubbi festklammernd , eine Mische nach der anderen präparierend, um der zu hoch dosierten Chemie in unseren Blutkreisläufen und Gehirnen etwas entgegenzusetzen, davor also hatten wir

wieder Erik losgeschickt, um bei Eintritt der Nacht Pillen zu besorgen, auf dem Parkplatz des Aufschwung Ost, an irgendwelchen Autofenstern. Ich sehe ihn vor mir, in seiner zu weiten Hanfhose, in seinen zu mächtig wirkenden Martens, sein überdimensionierter Dread-Zopf schaukelt um seinen großen Hinterkopf herum. Er klopft an irgendein Beifahrerfenster und beginnt zu verhandeln.


Ich nehme einen Schluck Wasser, schaue kurz zu Licher, der sich Notizen macht, lehne mich zurück und greife die Szene wieder auf.

Ich weiß noch, dass er winzige Mikros mitbrachte, LSD-Essenzen, rot, herzförmig, eine für jeden, und wie immer bot F sich an, zuerst zu nehmen, um den anderen Gelegenheit zu bieten, sich seinen Zustand anzuschauen, eine

halbe Stunde später. Darin lag keine Selbstlosigkeit - es war einfach die Rolle, die er für sich und wir für ihn vorgesehen hatten, das Bild, das ihm am ehesten entsprochen und am besten gefallen hatte.

Später kam mir T auf der Tanzfläche entgegen, mit schwarzen, glänzenden Augen, die komplett aus Pupillen zu bestehen schienen. Er nahm mich in sein Arme und erklärte mir erregt, wie sehr er mich liebte. Dann mischte der DJ

plötzlich „We are Family“ unter den treibenden Beat, und er war überhaupt nicht mehr zu halten:

Das sind wir, M, wir sind die Familie, merkst du das, ich liebe euch, euch alle, ihr seid meine Familie…“


Licher unterbricht mich, was unüblich ist, fragt mich, was ich gedacht und gefühlt habe, in dieser Situation.

Kurz irritiert es mich, dass er dieses Risiko eingeht, weil ich den Faden verlieren könnte, entscheide mich aber dazu, ihm zu vertrauen, was ebenfalls unüblich ist, eine neue Erfahrung, ein neues Gefühl, ein unerwarteter Befund und ein

ungewöhnlicher Beschluss.

Ich dachte damals, dass all diese Chemie, die wir da in uns hineinbeförderten, die ganzen kleinen Pillen und Trips, dass dies jeweils nur Verstärker waren, für das, was der Charakter und die Emotion vorgaben, auslegten, bereitstellten - und in T´s Fall war das eben diese Sehnsucht, nach Zusammenhalt, nach Aufgehobensein, nach Zugehörigkeit, die Einfindung in eine Art Verbund, in dem er aufzugehen suchte, immer schon, seit es ihn gab, das war SEIN Beweggrund, das, was ihn im Grunde antrieb.

Ich erwiderte seine Umarmung, drückte ihn ganz fest und zuckte plötzlich zurück, da mich ein heftiger Schmerz durchfuhr, der eine komplette Gesichtshälfte einnahm, wie ein ins Firmament stechender, grellgelber Blitz, der den Himmel aufreisst und ihn in zwei Hälften teilt. Ich hatte schon vergessen gehabt, und ihm war gar nicht aufgefallen, dass ich ein Spültuch mit schmelzenden Eiswürfeln an mein linkes Jochbein hielt.

Eine Stunde vorher hatte ich noch mit F in meinem Kadett gesessen - ein paar Züge an der Blubbi, bisschen runterrauchen vom Trip - und schräg gegenüber, an einen dicken Benz gelehnt, standen drei Typen, die zu viel gesoffen hatten, um hier wirklich hinzugehören, um sich hier einfügen zu können und zu wollen. Aus den Boxen des schwarzen, tiefergelegten und breitreifigen Mercedes dröhnte „Firestarter“ von The Prodigy.

Die Jungs wirkten, als hätten sie den Club mit irgendeiner Großraumdisco Nordhessens verwechselt, die Blicke flüchtig, flatternd - Verwahrlosung der Augen, verschlossene Öffner zur Welt, milchig, trübe, kaputtgesehen an den Dingen. Sie strahlten etwas Stumpfes aus, ein inneres Brachland, als hätte eine dauerhafte Ausgebranntheit innere Flurschäden hinterlassen, irgendwo, vielleicht an der Seele?

Mir machten sie Angst, F aber hatte das entweder nicht bemerkt, oder willentlich übersehen. Jedenfalls starrte er einen der Typen an, fixierte ihn als eine lächerliche Übertreibung, bat mich wortlos um Kopplung - und dessen Gesicht begann zu verschwimmen, unmittelbar, konturierte sich zu der Fratze, die er sein konnte, die zumindest jetzt und hier für uns sichtbar wurde. F lachte einfach los, war entzückt, ob des Ergebnisses, staunte darüber, wie

schnell sich eine zwischen uns vereinbarte Realität wieder auf eine für andere sicht-und spürbare Wirklichkeit legen konnte. Es dauerte nur einen Augenblick, dann hatte der Typ gespürt, was wir sahen. Er schaute zu uns herüber, sah F lachen, und setzte sich sofort und zu allem entschlossen in Bewegung, direkt auf meinen Opel zu. Schon der stechende Schritt wirkte bedrohlich, die Sehnen angespannt, wie ein Bogen, kurz bevor man den Pfeil loslässt. Der drahtige Körper drückte etwas Absolutes aus, etwas, das nicht diskutabel war, das sich jetzt und genau hier massiv zu entladen hatte - an uns. Ich kurbelte hektisch das Fenster hoch, drückte den Türöffner runter und startete den Motor, aber es war zu spät, es war alles bereits eingeleitet, er war schon ausser sich, hatte sich allem entledigt und völlig enthemmt.


Wenn Sie das erinnern, Herr O., was erinnern Sie dann noch, was denken Sie über diese Erinnerung, was empfinden Sie und wie fühlt sich diese Empfindung an?“

Ich lasse die Augen geschlossen, bin jetzt doch genervt von Lichers Unterbrechungen, von seinen Zwischenfragen, von diesem Vorgehen nach Lehrbuch - assoziative Fragestellung, metakognitives Training, meta-emotionales Coaching - all das wirkt diesem gerade erst entstandenen Eindruck entgegen, diesem noch fragilen Vertrauen, das ich in seine Kompetenz und schließlich und damit auch in ihn, als Mensch und als Gegenüber, entwickele.

Ich dachte und ich denke, dass das Ausmaß der Kraft und der Gewalt, die ein Mensch zu erzeugen und einzusetzen imstande ist, immer schon und vorwiegend an den Grad seiner Enthemmung gekoppelt ist?

Und ich würde jetzt gerne und ich muss auch weitermachen, weil das alles nicht so stabil ist, wie Sie vielleicht meinen…“

Gut“, sagt Licher, „machen Sie einfach weiter…“ Ich höre, dass er sich etwas notiert, merke, dass er sich ungern korrigieren oder sein Vorgehen infragestellen lässt. Sich Notizen über jemanden machen, über das, was er von sich gegeben oder wie er sich verhalten hat, verweist immer auf und manifestiert die Hierarchie, unabhängig vom jeweiligen Kontext, ist als Solches immer ein hierarchischer Akt, der auf dem Spielfeld der Macht vollzogen wird - ein Paar streitet sich, sie schreien sich an, der Eine steht auf, holt sein Tagebuch und beginnt zu

schreiben. Der Andere ist unmittelbar der, ÜBER den geschrieben, befundet, geurteilt wird, in und anhand einer neuen, einer weiteren Intersubjektivität, die zwar fiktiv ist, die ihn aber dennoch ausschließt, ihn verweisen wird, auf den Platz des Beurteilten, des Objektivierten, des NICHT TEILHABENDEN.


Zurück zu den Bildern: Ich träume seitdem regelmäßig von diesen Augen, von diesem Blick, weil dort schon angelegt und ausgesandt war, was sich noch nicht ereignet hatte, was mir aber dennoch schon in alle Glieder fuhr, als würde etwas in mir brechen, an mir reißen, mich entfremden wollen von allem, was vorher gewesen war und danach nicht mehr sein sollte. Das, was ich zusätzlich noch spürte, war ein Gefühl, als würden meine Därme sich gegen ihre Umstülpung wehren, von innen nach außen, als versuchten meine Innereien zu schreien, jedoch nicht akustisch, nicht in Tönen – eher sensibel, sensorisch, anhand von sich entladenden Neuronen.

Der Proll holte kurz und heftig aus, schlug die Scheibe auf meiner Fahrerseite ein und legte drei bis vier maximal entfesselte Faustschläge in Richtung meines Kopfes nach. Ich sah nicht viel, ich dachte nichts. Es roch nur nach roher, eskalierter Aggression und nach Gewalt, die sich durch Erniedrigung noch nährte und an Alkohol entzündet hatte. Das sind ekelhafte Geräusche, wenn Knochen auf Knochen prallt - und das nicht nur, wenn es die eigenen sind. Es knallt, es dröhnt, dumpf, stumpf, ein tiefer, hässlicher und zudringlicher Bass, anders als in den Bud Spencer- Filmen, die wir früher auf F´s Videorekorder sahen, nachts, wenn wir beieinander übernachteten und die Eltern schon schliefen. Es liegt rohe und hässliche Brutalität in diesem Klang.

Was ich roch und hörte, während seine Faust mein Jochbein traf, war jeweils unangenehmer und schmerzhafter, als die eigentlichen Schläge, zunächst. Es knackte, laut, kurz und penetrant, einmal, zweimal, dann zog er die Faust durch die Splitter des zerborstenen Fensters, schaute in meinen Seitenspiegel, fuhr sich einmal durch die kurzen, gebleichten und zurückgegelten Haare, korrigierte alles, was unser Blick ihm zugefügt hatte, und ging mit einem

Lächeln zurück zu seinem Wagen, wo seine beiden Kumpels nicht etwa johlten und lärmten - sie triumphierten vollständig durch ein dräuendes, eindringliches Schweigen, das bedrohlicher nicht hätte sein können.

Die ausgestrahlte Dominanz spülte eine Welle reiner Macht und Niedertracht zu uns herüber, transportiert und vermittelt nur durch die Blicke, die die beiden auf das warfen, was von mir übrig geblieben war.

Im Kadett war es dann völlig still. Ein unmittelbares, drückendes und bedrängendes Schweigen. Die Geräuschlosigkeit einer plötzlich aussetzenden Tonspur, der Abriss des Sensoriums als eine Nadel, die vom Vinyl rutscht. Die Atmosphäre wie ein abgerissener Faden, an dem das ICH sich festklammert, nur noch ein Puls, der kaum zu tasten ist. Jetzt gehen mir die Metaphern aus, jetzt wird es sehr konkret: Ich hielt mir beide Hände vor das Gesicht, traute mich kaum, die Augen zu öffnen, holte einmal tief Luft und begann zu kotzen, ausschließlich, bedingungslos, endgültig. Als würden sich nun die umgestülpten Eingeweide einen Weg nach außen, nach draußen suchen, weil es innen, weil es IN MIR zu eng und alles mir Zugehörige nicht auszuhalten - weil ICH MIR unerträglich war. Das Erbrochene spritzte zwischen meinen Fingern hindurch, landete auf dem Lenkrad, der Frontscheibe, dem Fahrersitz und in meinem Schoß, nun wieder akustisch untermalt, begleitet vom immer noch laufenden Motor und von weit entfernt wummernden, allmählich wieder zu vernehmenden Bässen, die aus dem Inneren des Clubs in das Wageninnere, in meine Ohren und in meinen Körper drangen, als würden sie aus einem tiefen, dunklen Gewässer auftauchen und um Luftzufuhr und Sauerstoff ringen, ganz kurz vor dem Ersticken, wie auch Ich, wie auch der, den ich von oben, abgetrennt von jeder Meinhaftigkeit, dort sitzen sah, entrückt um einen Daumensprung, vollgekotzt und keuchend, schattenhaft, wie ein Phantom.

Ich kann das bis heute nicht einordnen und glauben - aber F begann plötzlich zu lachen, sehr laut, immer noch lauter werdend. Er kurbelte mit der rechten Hand sein Fenster herunter - während er mit links und gleichzeitig den nach unten gedrückten Türöffner nochmals überprüfte - und brüllte dem Typen irgendetwas hinterher, vielleicht „starke Leistung, wirklich“, oder „Mann, was für ein Macker du doch bist“ - bevor der erneut reagieren konnte, kuppelte ich in den ersten Gang, drückte das Gaspedal durch und verließ rasend den Parkplatz, drehte vor dem Haupttor und stellte den Wagen neben den Seiteneingang, dort, wo man ihn nicht sehen konnte, wenn man nur vorbeifuhr.

Ich sah den fahlen und blassen Halbmond am Himmel, abnehmend, immer nur noch weiter sich verkleinernd, bis zu seiner völligen Auflösung. Mein Herz schlug so schnell, dass ich mich im Nachhinein wundere, warum es nicht implodierte. Ich empfand Wut, eine sich nach oben katapultierende, vertikal aufsteigende Wut, auf den Typen natürlich, aber auch auf F, weil er sich wieder nicht hatte zurückhalten können und wollen, und weil es gelaufen war, wie es immer lief: Er blieb verschont. Er wagte irgendetwas, er testete oder überschritt Grenzen, er lotete seine eigenen aus und ignorierte meine - den Stress und den Ärger hatte und bekam nicht er. Es waren immer die anderen, die unter seinen Eskapaden zu leiden hatten, in diesem Fall wieder einmal: ICH.

Ich hole dir Eis zum Kühlen.“ Mit diesen Worten öffnete F die Beifahrertür und war weg, ließ mich zurück, alleine in meiner Kotze, mit meiner Panik und in der Gefahr, von den Typen doch noch entdeckt zu werden. Fiction Factory tönte aus dem Autoradio, „Feels like heaven“ - jetzt musste auch ich lachen, ebenso laut und ausgedehnt musste ich, bald schon hysterisiert, einfach nur lachen. Bis ich das dann irgendwann hörte, ich meine mich wirklich vernahm, bis ich also vergegenwärtigte, dass es mir nicht gut ging, dass ich mich an irgendeiner Schwelle befand, irgendwo in irgendeinem Zwischen. Vielleicht beschließt die Registratur einer Befindlichkeit ein Geschehen, reisst uns raus aus dem Erlebnis. Die Bewusstwerdung wäre dann keine VERGEGENWÄRTIGUNG, denn sie ENTGEGENWÄRTIGT ja eher, sie beendet eine Situiertheit, in die man verstrickt war, indem das plötzliche Gewahrsein eine neue Situation existent sein lässt.

Ich zitterte, ich fror, ich stank nach Erbrochenem und nach Angst. Dann begann ich zu heulen, es quietschte erneut die Beifahrertür und F setzte sich wieder neben mich, dieses Spültuch in der Hand, das ein paar Eiswürfel umwickelte. Ich umarmte ihn, erleichtert, dass er zurückgekehrt war und dankte ihm, drückte ihn fest an mich, einfach nur, um mich zu erden, um durch den Kontakt mit einem anderen Körper auch meinen wieder zu spüren, mich in der Situation und zuvorderst in der Wirklichkeit zu verankern, die an den Rändern schon auszufransen begann, die mir schon faserig und brüchig erschien. Er ließ das über sich ergehen und drehte meinen Kopf zur Seite, um sich „die Schwellung und die Wunde anzusehen“. Ich merkte aber, dass es vielmehr darum ging, sich aus meiner Umarmung lösen zu können, ohne dass es herzlos gewirkt hätte, was es aber dennoch tat.


Es tut mir Leid, Herr O., aber wir müssen das hier unterbrechen, die Zeit ist schon überschritten, der nächste Patient wartet bereits. Wir sind heute gut vorangekommen, wir machen morgen weiter, seien Sie stolz auf sich, sie machen das gut!“

Habe ich mich bereits zum Vorgang des Lobens - zum Vertikalen und Absteigenden des Lobes - geäußert?

Ich bin mir da gerade nicht sicher. Jedenfalls quittiere ich Lichers Worte mit einem ironischen Grinsen, bedanke mich mit einem „Danke“, erhebe mich und gehe zurück in mein Zimmer.

Ich denke nochmal an dieses letzte Bild, an F, wie er sich meine Schwellung ansieht, wie er Sorge vortäuscht, um sich der Nähe zu entziehen, MEINER Nähe. Auch das, seine nicht ausgeprägte Bereitschaft, sich in letzter Konsequenz seiner Konfrontiertheit zu stellen, sich all dem einfach immer nur zu verweigern, was drohte, ihn wirklich an-zugehen und zu betreffen, es mit einem herzhaft vorgebrachten Lachen einfach wegzuwischen, all diese eigentlich fragwürdigen Eigenschaften und Verhaltensweisen, die konnte ich ihm dennoch nicht verübeln, die musste ich ihm direkt und unmittelbar verzeihen, weil ich es WOLLTE, weil ich ihm vergeben wollte, weil ich ihn LIEBEN WOLLTE.

Ich weiß nicht, ob er es wusste. Ich bin mir über wenig wirklich im Klaren, was F betrifft.

Wusste er, dass ich ihn liebte? Und wenn, seit wann hat er es gewusst, ab wann wurde es ihm klar?

Ich würde ihn gern fragen können, würde vieles gerne abgleichen, mit ihm, meine Wahrnehmung, mein Erleben, meine Erinnerung. Es ist nicht nur der Mensch, der fehlt, der mir so sehr abgeht. Es ist vor allem auch alles, was mit ihm möglich war, was wir zusammen leben und erreichen konnten, was sich in und anhand dieser Schnittmengen, die wir bildeten, realisieren ließ, was sichtbar wurde, spürbar, machbar.

Er hinterlässt mich, im eigentlichen Sinne.


22h55 - vorhin, nach dem Abendbrot, klopft Licher noch einmal bei mir, zieht einen der beiden Stühle, die bei dem Resopaltisch stehen, an das Bett heran, setzt sich und fordert mich auf, noch bemühter die letzten Jahre zu rekonstruieren - auch für mich, nicht nur in den Sitzungen, sondern im Schreiben allgemein und ganz konkret anhand der Protokolle - jung anfangend und älter werdend, im letzten Jahr beginnend, mich vor-oder zurückarbeitend, bis 1994.

Sein Blick wandert zu den beiden Fotos, die über meinem Bett hängen.

Sind Sie das, auf dem abgeschnittenen Bild?“

Ich schaue ihn an, weil ich weiß, welches Foto er meint.

Nein. Das ist F, 1994.“

Ich teile Licher mit, dass es vielleicht noch einen anderen Weg gibt, die Dinge zu rekapitulieren, da ich ja immer geschrieben habe, da es meine Tagebücher gibt, aus all den Jahren, Dokumentationen also, die ich lesen kann, die wir lesen können, gemeinsam. Er wundert sich, dass ich ihm davon nichts erzählt habe, bislang, ist aber einverstanden, ist geradezu begeistert, für seine Verhältnisse, kann die Andeutung eines Lächelns nicht verhindern, das sich auf sein Gesicht legt, sich seiner Mimik einschreibt, während er mit dem Kopf nickt und mich bittet, direkt damit anzufangen, die Bücher demnach in die Sitzungen mitzubringen, sobald es mir möglich ist. Also werde ich meine Mutter bitten, mich am Wochenende zu besuchen und sie mir auszuhändigen. Es ist der Preis, den ich zahlen werde - eine Stunde Kaffee und Kuchen mit Ingeborg. 60 Minuten Verlegenheit. Ausweichende Augen, in die wir beide blicken, Scham und Schuld, Wut und Kummer, Vorwurf und Verletztheit, Aufschlag und Return - alles aufgefangen in vorbeisehenden Blicken, sich verfehlenden Worten und entfremdeten Gedanken – nichtverstandene Wirklichkeiten und widersprechendes Erleben in einer gemeinsamen Vergangenheit, gedeckelt nur von einer beiderseits stark ausgeprägten Fähigkeit, zu vergessen, zu verdrängen, bis zur völligen Gleichgültigkeit NICHT zu fühlen und aneinander vorbei zu leben.

Ich habe ihm die Tagebücher nicht bewusst verschwiegen. Ich hatte es vergessen, vielleicht ebenso verdrängt, jedenfalls war es mir nicht mehr bewusst, wie so vieles, was ich einst getan und erlebt habe, was dieser Typ, der mich dargestellt hat, an Leben angehäuft und an Erfahrungen angesammelt hat.

Ich bin nicht der, der damals Tagebuch geschrieben hat. Der ist abhanden gekommen, ist verschwunden.

Auf den ist nur noch verwiesen, zwischen den Zeilen dieser Bücher.




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Autor Florian Giesenhagen

Dipl.-Hygiagoge im Hygiagogik-Zentrum Nordwest

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