D a R/9
9 KLINIKPROTOKOLL M - 10.1.98
Nacht, 23h38.
Ich bemühe mich, zu sortieren und zuzuordnen, das Eine vom Anderen zu trennen, das Ereignis von der Vorstellung, die Gegenwart von der Vergangenheit, die Nacht vom Tag und allgemein die Dinge voneinander. Wichtig ist die Unterscheidung, weil ich andernfalls den Nachweis nicht erbringen kann, mündig zu sein, zurechnungsfähig, sorgetragend, für mich. Weil es dann nicht mehr nur darum geht, wie die anderen mich wahrnehmen, ob sie mir noch glauben und trauen, ob ich demnach weiterspielen darf, „IM GAME“ bleiben, sondern vielmehr darum, mir selber nicht zu entgleiten, die Reste der Überzeugung nicht einzubüßen, mich auf mich und mein Erleben verlassen zu können, selber die Instanz zu sein, die darüber befindet und entscheidet, was ich wirklich und tatsächlich erlebt habe, was sich zugetragen hat, was realiter noch zu vereinbaren ist – in Wirklichkeit...
15h05:
Auf den kleinen Tisch, zwischen den beiden Sesseln, die in Lichers Raum die Sitzgruppe bilden, hat er einen Zeitungsausschnitt in einer Klarsichtfolie gelegt. Ein einzelnes Bild, ein dreizeiliger Text darunter. Oben rechts ein handschriftlicher Vermerk, die Zeitung, das Datum:
HNA (Hessisch-Niedersächsische Allgemeine) - 29.8.1997.
Der Ausschnitt liegt und steht zwischen uns, zwischen Licher und mir, zwischen der Realität und mir, zwischen mich und mir, wie eine Mauer ist er dort aufgebaut und hochgezogen, eine Mauer, die das Vorher vom Nachher trennt.
Meine Akte sehe ich ebenfalls dort liegen, am Rand des Tisches, zugeschlagen.
Es ist still, stiller noch als sonst, in diesen letzten Wochen, in denen ich regelmäßig hier gesessen habe, auf genau diesem Sessel, ihm gegenüber. Fast scheint es, als würde der erste Ton, den einer von uns beiden erzeugt, diese Stille und auch die Mauer und diese Kluft zwischen uns vollständig einreißen und den Blick freigeben, in beide Richtungen. Ich traue kaum, mich zu bewegen. Ich bin eingefroren, in der Haltung und in der Position, die ich eingenommen habe, unwissend, wie lange schon, seit wann konkret.
Es ist eine Starre, die mich ergriffen hat, aus der ich mich nicht lösen kann, weil mit dieser Erstarrung auch ich mich lösen oder auflösen werde, weil ich mit den Dingen wieder beginne, mich zu ereignen und zu bewegen, weil die Handlung damit wieder einsetzt und mich Akteur sein lässt, weil dann die Schonung vorüber ist, die Taubheit und die Erblindung endet - und weil all das mir Angst macht.
Große Angst, bemerke ich. Immer noch größer werdende, bald zu einer Art Panik anwachsende ANGST.
Nichts ist so unmittelbar, wie Angst. Nichts so eindeutig, so absolut.
Ich muss nicht denken „ich habe gerade Angst“, um das zu wissen, um mir dessen klar und bewusst zu sein.
Es heisst ja auch: Ich HABE Angst. Ich BIN vielleicht traurig, ich HABE aber keine Trauer, ich BIN erfreut, die Freude aber HABE ich nicht.
Die Angst aber, die ist eigentümlich, die HAT man, und die HAT einen...
Licher schaut mich an, hat die Augen und den Blick hinter den Brillengläsern auf mich gerichtet, einen Blick, den ich nicht deuten kann, nicht deuten will - worum geht es hier, momentan? Wird hier gerade mein Eindringen in sein Büro verhandelt, ahnt oder weiß er, dass ich ihn beobachtet habe?
Habe ich ihn beobachtet?
Als ich letzte Nacht aus einem Halbschlaf erwache, ist es 2h50, ich suche nach Indizien, nach Anhaltspunkten, die mir Klarheit verschaffen könnten, über den Verlauf des vergangenen Tages, darüber, ob ich geträumt habe, oder ob ich tatsächlich unter seinem Schreibtisch hockte, ob sich die Dinge tatsächlich und in der Realität ereignet haben.
Es ist eine Art Flattern, das mich jetzt ergreift, die Ungewissheit bedrängt mich, wie auch das fehlende Vertrauen in mich selbst und in meine Fähigkeit, noch unterscheiden zu können, einfach zu WISSEN, was Wahrnehmung gewesen ist, was ich erlebt und erfahren und was ich nur vorgestellt, imaginiert, oder schon geträumt habe.
Warum war die Tür zum Büro nicht abgeschlossen? Warum hat Licher versucht, sie aufzuschließen? Warum dämmerte es bereits, beim Betreten des Raumes, und warum war es vollständig dunkel, als ich ihn wieder verließ? Ich werde das nicht klären können, ohne Licher einzubeziehen, also wird es von meiner Seite kein Bemühen um Aufklärung geben, da ich mir auch nicht sicher bin, was das für Konsequenzen nach sich zöge, ob unser beider Wissen darum, dass ich ihn „ertappt“ habe, mir einen Vorteil verschafft, oder ob es ihn nur noch entschiedener dazu veranlasst, seine Macht über mich auszuspielen, mit mir und meinem Dilemma, nicht glaubwürdig zu sein, zu operieren. Das Dilemma ergibt sich ja schließlich erst daraus, dass ich feststecke, zwischen den Welten, mich in den Zwischenräumen verloren habe, die die untereinander zu vereinbarende Realität von der Vorstellung und Wahrnehmung eines Einzelnen trennt. Also bemühe ich mich darum, loszulassen, mich einzufinden in meinen Schwebezustand und mich abzufinden, mit dem Umstand, mich in mir und in meiner Wirklichkeit verlaufen und verirrt zu haben, nicht mehr hinaus-und nicht wieder hineinzufinden.
Licher scheint auf etwas zu warten, darauf, dass ich reagiere, irgendwie, als hätte er mir eine Frage gestellt, und wartete auf Antwort - hat er mich etwas gefragt?
„Wie bitte…?“ Die beiden Worte brechen, während ich sie spreche.
Meine Stimme klingt fremd, es sind nicht meine Worte, die sich da sprechen, ich beobachte den Typen nur, der da sitzt, der die Rückfrage stellt, ich bin gleichzeitig IN und AUSSER mir, und während ich etwas sage, sehe und höre ich mich etwas sagen, kann mich aber selber nicht erkennen, beim Sprechen, bleibe Zuschauer, bin kein handelnder Akteur in diesem Schauspiel, in dieser Szene, die sich in meinem Beisein, nicht aber in meiner Anwesenheit, selbsttätig und autark zu ereignen scheint.
„Ich hatte Sie gefragt, warum Sie sich den Artikel nicht ansehen. Sie haben nicht hingesehen, als ich ihn auf den Tisch gelegt habe, Sie haben bewusst zur Seite geschaut. Was passiert da in Ihnen, Herr O., können Sie mir die Gefühle
beschreiben,
die Sie gerade haben?“
Ich sehe Lichers Sätze und Fragen.
Seine Worte bewegen sich auf mich zu, sie formieren sich, direkt vor
meinem Kopf - da bleiben sie stehen, auffordernd, bedrohlich,
aggressiv. Mit der rechten Hand versuche ich, sie wegzuwischen,
fuchtele vor meinem Kopf herum, bringe aber nur die Wörter und die
Reihenfolge der Sätze in Unordnung, sehe plötzlich die Worte
„...warum haben Sie mir die Gefühle auf den Tisch passiert, die
Sie gerade zur Seite haben...“ vor mir, muss daraufhin kurz
lächeln, wische noch einmal hindurch – jetzt steht da „...ich
hatte Sie, Herr O., bewusst auf den Tisch gelegt, sie haben in Ihnen
den Artikel nicht zur Seite geschaut...“, und fange jetzt laut
zu lachen an, was bei Licher zu einem sehr irritierten, beinahe
sorgenvollen Blick führt, er räuspert sich, hustet in seine
offene Faust. Ich beende diese alberne und durchaus nicht
unbedenkliche Wortspielerei, nicht ohne abschließend noch einmal
kräftig und deutlich, rechtshändig vor meinem Kopf zu wedeln, auf
eine Weise, wie man vielleicht üble Gerüche zu vertreiben sich
bemüht, ebenso vertreibe ich die übelriechenden Worte und Aussagen
Lichers vor meinem Sichtfeld. Licher steht tatsächlich auf und
öffnet ein Fenster, dachte vielleicht, ich hätte gefurzt, oder
meinte sogar, es wäre ihm versehentlich selber einer entwichen. Wahnsinn, der reine Wahnsinn, der in diesem ja genau dafür
vorgesehenen Raum sich gerade ereignet.
Seine Worte sind
jedenfalls weg. Ich konnte sie erfolgreich vertreiben.
Er
sieht auf seine Uhr, löst seine Position, indem er das rechte Bein
vom linken nimmt, und das linke nun über das rechte legt, und
schweigt.
Ist er nervös? Ich habe es noch nicht erlebt, dass er
seine vermeintliche und scheinbare Ruhe einbüßt, dieses Phlegma,
das alles an ihm abprallen lässt. Etwas ist in diesem Raum, das ihn
irritiert, das seine volle Aufmerksamkeit einfordert, das nicht zu
seiner alltäglichen Routine gehört, und ich befürchte, es hat mit
diesem Ausschnitt zu tun, der da immer noch auf dem Tisch liegt,
zwischen uns, dräuend, brütend, immer noch weiter anwachsend, in
seiner Vehemenz und in seinem Einfluss, den er auf mich und ihn zu
haben und überdies zu nehmen scheint.
Ich denke an gestern.
Einfach nur, um nicht hier sein zu müssen, um nicht jetzt und heute
zu erleben, um aus dieser Situation zu fliehen, die mich in eine Enge
treibt, mich bedrängt, mich nervt.
Gestern ist Andi abgehauen,
der Typ aus Zimmer 9. Ist über den Zaun geklettert, der die
Klinikanlage begrenzt, sie abschirmt, nach innen und außen. Abends
kehrte er zurück, hat sich einfach an unseren Tisch gesetzt und sein
Abendbrot zu sich genommen. Irgendwann ist dann Licher in den
Essenssaal gekommen, hat ihn zu sich gewunken und ist mit ihm
abgezogen, in Richtung dieses Raumes, in dem auch ich jetzt sitzen
muss.
Andi ist mir immer noch ein Rätsel. Er ist einer der
Wenigen, die mir überhaupt aufgefallen sind, einer, der sich abhebt,
von diesem völlig weggetretenen Zell-Brei, den alle Patienten hier
gemeinsam darstellen und bilden, ein Brei aus Stumpfsinn und
chemischer Betäubung. Wie alle anderen, so scheint auch er in einer
tiefen Brühe aus emotionalen Fäkalien zu treiben, in SEINER Brühe…
Aber er hat den Kopf gehoben, vom Hals aufwärts guckt er da heraus,
scheint sich das anzusehen, wie er da so treibt und unterzugehen
droht, wirkt teils amüsiert, teils gleichgültig, als würde ihn
nichts angehen, als beträfe ihn nichts wirklich, nichts und
niemand.
Das strahlt auch eine Erhabenheit aus, die aus der
Verzweiflung herauswächst, die mir gefällt, die ich mir gerne
anschaue, wenn er beispielsweise unten sitzt, auf einer der Bänke im
Raucherbereich, immer rechts vor dem Eingang, sich eine Kippe an der
anderen anzündend, schon wieder die nächste drehend, während er
noch raucht.
Manchmal, ganz kurz nur, für einen flüchtigen
Moment, meine ich, ihn zu kennen. Es ist immer irgendeine seiner
Gesten, ein Blick, eine Handbewegung, immer etwas Leibliches, dass
mich zu erinnern scheint, an ihn, ein Wiedererkennen, von dem ich
angefallen werde, das aber sofort wieder ablässt, von mir. So
auch gestern Abend, als er zurückkehrt, aus Lichers Raum. Ich habe
mich auf mein Bett gesetzt, will gerade mein Protokoll beginnen,
damit, zu dokumentieren, einzuordnen…
Die Türe steht halboffen,
ich höre Schritte, die sich nähern, ein entspannter Gang, scheinbar
kein Ziel habend, nichts konkret verfolgend, nirgendwo wirklich
hinwollend, einfach nur gehend, einen Fuß vor den anderen setzend.
Ich hebe den Kopf, blicke zur Tür, in den Ausschnitt, der vom Flur
zu sehen ist, und schaue ihn – Andi - an, während er vorbeigeht,
denn auch er blickt durch die Tür in mein Zimmer, direkt in meine
Augen, als hätte er gewusst, dass ich genau dort sitzen würde, ihn
erwarten und ihn ansehen. Es ist nur ein Blick, es ist nur eine
Sekunde, aber es scheint so, als läge in diesem Blick ein
vollständiges Einvernehmen, worüber auch immer.
„Herr
O., wir können darüber sprechen, WANN es soweit ist, können
diskutieren, ob sie dabei alleine sein wollen, oder vielleicht in
ihrem Zimmer, aber sie werden sich diesen
Zeitungsausschnitt anzusehen haben, ob sie das wollen,
oder nicht, haben Sie das gehört, haben Sie das verstanden?“
Lichers
Worte reissen mich plötzlich und abrupt raus, schneiden ein Band
durch, das ich von hier nach gestern gelegt habe, an dem ich mich
zurückgezogen habe, wie an einem Seil. Ich stürze, in das Jetzt.
Mir die Knie und die Ellenbogen reibend, sehe ich ihn an, überlege
nicht wirklich, aber tue so, als würde ich es tun, gewinne dadurch
etwas Zeit, um mich zu sammeln und zu orientieren. Dann tue ich
etwas, das ich nicht verstehe, das nicht beabsichtigt ist, das ich
auch nicht habe kommen sehen, es ist eher mein Körper, der da
handelt, es bin nicht ich, oder vielleicht bin ich es doch, in der
Tiefe, in einer Eigentlichkeit: Ich lehne mich vor, rutsche mit dem
Hintern auf dem Sessel bis ganz nach Vorne, strecke den Arm aus und
greife mir den Artikel. Ich halte ihn in der Hand, wedele damit vor
meinem Gesicht herum, höre, wie Licher sich erneut räuspert, dann
lege ich den Ausschnitt auf meine Knie, streiche die Folie glatt,
richte meinen Blick darauf, und sehe meinen Wagen, den blauen Opel
Kadett. Das heißt, ich sehe die Reste davon, er ist vorne völlig
eingedrückt, seine Schnauze ist in das Heck geschoben, dennoch
erkenne ich ihn, es ist das Gefühl, das ich habe, als ich auf diesen
blauen Blechklumpen sehe, das mich unmittelbar wissen lässt:
Das
ist MEIN KADETT.
Dann klopft es plötzlich am Büroeingang. Noch
bevor ich irgendetwas zu dem Schrotthaufen empfinde, noch bevor
Licher irgendwie auf das Klopfen reagieren kann, wird die Türe auch
schon aufgerissen, eine erkennbar nervöse Frauenstimme fordert
ihn auf, bitte sofort in Zimmer 9 zu kommen, es sei durchaus
dringend. Licher steht auf, nimmt mir den Artikel aus der Hand,
stopft ihn zurück in meine Akte.
„Sehr
ungünstig, aber wir müssen morgen weitermachen…Geht es Ihnen gut,
ist alles soweit in Ordnung, mit Ihnen, Herr O.?“
Ich bin
irritiert, aber gleichzeitig auch erleichtert, bin dankbar, für die
Unterbrechung. Ich nicke bestätigend, erhebe mich ebenfalls und
verlasse den Raum, gemeinsam mit Licher, der ihn abschließt und dann
in schnellen, aber kontrollierten Schritten, zielstrebig, nicht
hektisch, der Pflegerin zu Zimmer 9 folgt - zu Andis Zimmer. Ich
folge ihm, natürlich. Im Flur hat sich bereits die übliche Traube
aus Neugierigen gebildet - nur weil wir IRRE sind, bedeutet es nicht,
dass wir nicht auch die schlechten Eigenschaften der offiziell
NICHT-IRREN, der „GESUNDEN“ hervorkramen, abrufen, HABEN könnten
– die pure und völlig emphasebefreite Sensationslust, zum
Beispiel.
Zwei der männlichen Pflegekräfte versperren den Weg
und den Blick in den Raum, aus dem nichts zu hören ist, in dem es
still ist, sehr still. Als Licher im Zimmer verschwindet, wird die
Tür geschlossen, die beiden Pfleger bewachen den Eingang. Die Menge
löst sich langsam auf, es wird getuschelt, es werden wichtige und
wissende Blicke ausgetauscht. Donata steht jetzt neben mir, hat die
Hand vor den Mund gehalten und versucht, mich einzuweihen, während
ihre Stimme immer wieder bricht und sich überschlägt, ich kann nur
Satzfetzen aufgreifen, verstehe jedoch, worum es geht, warum sie so
erregt, so hochgetaktet ist…
„…hat sich einen vergoldeten
Schuss gesetzt…nicht ansprechbar…kaum Puls…vielleicht
Absicht…gestern nach Kassel getrampt…Stoff unter dem Bidet
gefunden worden…gibt Stress, großen Ärger…“
Sie
erzählt das mit einem Blick, der einerseits erschrocken ist, der
aber auch etwas weiteres preisgibt, was sie jahrelang mühsam
versuchte, wegzutherapieren, was aber nicht ausgelöscht sein kann,
was niemals ganz verschwindet: die Gier des Ex-Junkies.
Es
scheint wie eine Wunde, die sich nicht hinreichend schließen will,
die immerwieder aufbricht, es wirkt wie ein schlecht vernarbtes
Gewebe, das einem inneren Druck nicht mehr standhält, das immer
aufzuplatzen droht. Ihre Augen vermitteln ein sich plötzlich und
selbständig wieder aktivierendes Begehren, ein Verlangen, das sich
an der Vorstellung nährt, an der Erinnerung an diesen Zustand, in
dem sie sich jahrelang befand, in dem sich Andi jetzt befindet.
Die Droge und der Rausch sind plötzlich ganz nah, viel zu nah, nur
ein Zimmer entfernt.
Donata wird unruhig bleiben, wird dieses
Gefühl, das von ihr Besitz ergriffen hat, nicht mehr hinreichend
loswerden, wird den restlichen Tag, vielleicht auch noch den
Nächsten, noch massiver kämpfen müssen, gegen ihre Sucht,
gegen sich selbst, wird sich gegen Angriffe verteidigen zu haben,
die sie nicht verorten und nicht kommen sehen kann, weil der Feind
sich IN IHR befindet, weil er die Angriffe gut verkleidet, weil er
sich ihrer Verteidigung bemächtigt, ohne sie das merken zu lassen -
weil der Aggressor sich lange schon eingenistet hat, in ihrem Fühlen,
Denken und Empfinden.
Sie spürt das, unterschwellig, sie weiß das, aber sie befindet sich bereits in Händen und Genese der Suchtstruktur, die das Kommando übernommen hat. Ein Film beginnt, es tauchen Bilder auf, sie sieht sich, wie sie auf dem Friedrichsplatz steht, wie sie ein halbes Gramm kauft, wie sie auf die Toilette einer Bäckerei verschwindet und das Ritual vollzieht. Sie beobachtet, wie sich alles reaktiviert, wie sie die Handgriffe ausübt, als hätte sie erst gestern damit aufgehört.
Es ist wie Radfahren, man verlernt es nicht, sie steigt einfach auf den Sattel und fährt los, nur, dass sie sich nicht dazu entschlossen hat, zu fahren, sich auf den Sattel zu setzen, das Schloss aufzuschließen, nicht jetzt, nicht hier, nicht heute…
Nur,
daß sie nicht selber lenkt, nicht wirklich selber fährt...
Aber
die Umstände, sich des Schlüssels für ebendieses Schloss nicht
entschiedener entledigt zu haben, nach zwanzig Jahren immer noch und
ohne nachzudenken zu wissen, wo dieser sich befindet, direkten
Zugriff darauf zu haben, die sind ihr selbst zuzuschreiben. Nicht
ihrer freien Entscheidung, nur ihr selbst, ihr selbst, ihr selbst…
Es
ist nicht der Wille, der da noch frei wäre. Es ist die Gesinnung.
„Lass
uns spazierengehen, Donata“, höre ich mich sagen.
Ich hake sie
unter und ziehe sie den Gang entlang, öffne die schwere Drehtür
nach draussen und spüre den eisigen Wind, der uns ins Gesicht
bläst.
„Die Abkühlung tut gut…“, sagt sie, schmiegt
ihren dürren, ausgezehrten und drahtigen Körper enger an
meinen, „…danke!“
Ich lächle, lege den Arm um sie
und blicke zum Himmel. Es beginnt zu dämmern.
Bald wird der
Mond erkennbar sein.
Dipl.-Hygiagoge im Hygiagogik-Zentrum Nordwest
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